Raubkunst aus Indien: Langer Weg nach Hause
30. Mai 2021Die Liste indischer Kulturschätze, die gestohlen und nach Großbritannien gebracht wurden, ist lang. Schließlich war das Britische Empire die größte Kolonialmacht ihrer Zeit und Indien ihre größte Kolonie, das "Kronjuwel" des Empires.
Unter den Raubgütern, gern als "Geschenke" bezeichnet, befinden sich solche Schätze wie der Koh-i-Noor-Diamant (105,6 Karat). Erst schmückte er eine Brosche Königin Victorias, danach die Krone der "Queen Mum", die Mutter der heute regierenden britischen Königin Elizabeth II. Außerdem stahlen die Briten einen Buddha-Schrein aus dem Amaravati-Denkmal im Südosten Indiens und einen hölzernen Tiger mit integrierter Spieluhr, den sie Tipu Sultan abnahmen. Er war Herrscher im südlichen Indien und wurde im 18. Jahrhundert von der britischen Armee besiegt.
Heute befinden sich diese Raubgüter in Großbritannien, zum Beispiel in London im British Museum und dem Victoria & Albert Museum (V&A) oder in Oxford im Pitt Rivers Museum. Das V&A-Museum besitzt ebenfalls eine beeindruckende Sammlung von Benin-Bronzen. Diese eignete sich eine Britische "Strafexpedition" im späten 18. Jahrhundert an, die das Königreich Benin (heutiges Nigeria) heimsuchte. Viele dieser Bronzen fanden ihren Weg danach in die Bundesrepublik Deutschland, die kürzlich bekanntgab, sie würde die Bronzen an Nigeria zurückgeben.
Freiwillig auf der ganzen Welt bemühen sich um Restitution
Viele Inderinnen und Inder wünschen sich die Objekte zurück, die sich die britischen Kolonialmacht angeeignet hat. "Ihr habt uns das Leben genommen. Ihr habt Raubbau an unseren natürlichen Ressourcen betrieben. Ihr habt unser kulturelles Erbe gestohlen. Unser Leben und unsere Ressourcen könnt ihr uns nicht zurückgeben, also gebt wenigstens unser kulturelles Erbe zurück... Eine Nation ist noch nicht wirklich entkolonialisiert, wenn man ihnen noch nicht das zurückgegeben habt, was rechtmäßig ihnen gehört", so Anuraag Saxena, Gründer des India Pride Project (IPP). Seit 2014 bemüht sich das IPP darum, historische und kulturelle Objekte zurück nach Indien zu bringen, die während der Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit im Jahre 1947 aus dem Land geraubt wurden.
Seit seiner Gründung hat das IPP zahllose Projekte umgesetzt, von denen einige Kontroversen ausgelöst haben. Im Jahr 2018 reisten Mitglieder der Gruppe in britische Museen, machten Fotos von indischen Statuen und fügten Sprechblasen hinzu, auf denen Aussagen standen wie "Wie bin ich hierhergekommen?" und "Ich bin eine Gottheit, kein Ausstellungsstück".
Der DW erteilte Saxena schriftlich Auskunft über das IPP: Dabei handele es sich um ein globales Netzwerk von Freiwilligen, die daran arbeiten, "Indiens gestohlenes kulturelles Erbe zurück nach Hause zu bringen". Der Aktivist bekräftigt, dass Staaten, Museen, Bürger und Beamte verstehen müssten, dass dies moralisch geboten sei. Er glaubt daran, dass "Geschichte zu ihrer Geografie gehört".
"Wir habe aus einer wissenschaftlichen Diskussion eine soziale Bewegung gemacht", fügt Saxena hinzu. Er ist überzeugt, dass es nicht ausreicht, das Thema allein wissenschaftlich aufzuarbeiten: "Das glorifiziert die Diagnose, lässt aber die Behandlung außen vor."
Einige Erfolge kann das IPP bereits verzeichnen: Es hat den Weg einiger gestohlener Statuen bis nach Australien und in die USA nachverfolgt. Die meisten dieser Objekte sind allerdings nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 gestohlen worden. Eine dieser Statuen tauchte später auch in Deutschland wieder auf. Bei einem Amtsbesuch in Neu Delhi gab Angela Merkel diese im Jahr 2019 an die indische Regierung zurück.
Die Rückgabe von Kunstwerken
Der Koh-i-Noor-Diamant wird von mindestens vier Staaten beansprucht, unter ihnen der Iran und Pakistan. Der Diamant, dessen Name auf Persisch "Berg aus Licht" bedeutet, wird auch von Indien eingefordert. Im Jahr 2016 wurde das jedoch nach einem Staatsbesuch aus Großbritannien auf einmal kompliziert: Damals ließ Indiens Generalstaatsanwalt vor dem Verfassungsgericht in Neu Delhi verlauten, der Diamant "ist weder gestohlen noch geraubt worden … Er wurde den Briten freiwillig übergeben, von Ranjit Singh [dem König von Punjab], als Belohnung für ihre Unterstützung im Ersten und Zweiten Sikh-Krieg [im 19. Jahrhundert]".
Kurz zuvor waren Prinz William und seine Frau Kate, Duchess von Cambridge, in Neu Delhi bei Premierminister Narendra Modi zu Besuch. Sollte Prinz William eines Tages König werden und seine Frau damit Königsgemahlin, würde sie die Krone tragen, die den Diamanten enthält - eine Legende besagt nämlich, der Diamant würde Männern "Unglück bringen".
Auf die Aussage des Generalstaatsanwalts reagierte die indische Öffentlichkeit mit Entsetzen. Vier Jahre später bat die indische Regierung erneut darum, die Schätze zurückzugeben. Das britische Außenministerium (UK Foreign and Commonwealth Office) gab zur Antwort: "Der British Museum Act [das Gesetz zu Britischen Museen] 1963 macht es nationalen Museen unmöglich, Objekte aus ihrer Sammlung zu entfernen … Die Regierung hat keinerlei Pläne, dieses Gesetz zu ändern."
Kunst außerhalb des kolonialen Zusammenhangs betrachten?
Trotz dieses Gesetzes haben einige Kulturinstitutionen im Vereinigten Königreich historische und kulturelle Objekte an ehemalige Kolonien zurückgegeben. Vor allen die Universitäten haben sich hervorgetan: Die Universität Edinburgh gab im Jahr 2019 Schädel an Sri Lanka zurück. Das Manchester Museum, das zur Universität Manchester gehört, übergab im selben Jahr 43 Objekte an indigene Gruppen in Australien.
Andere Institutionen, unter ihnen das V&A und das British Museum, bestehen darauf, dass sie keine Objekte zurückgeben können. Sie berufen sich entweder auf den British Museum Act oder darauf, dass es im Interesse der Menschheit sei, dass die Objekte in Großbritannien verblieben.
Das V&A Museum reagierte nicht auf aktuelle Anfragen der DW nach einer Stellungnahme. Seine Haltung gegenüber der Rückgabe von kolonialen Artefakten hat es allerdings 2019 bereits klar dargelegt: In einem Essay, das in der britischen Zeitung "The Guardian" erschien, meldete sich Tristram Hunt zu Wort. Der Museumsdirektor des V&A legt darin dar, warum Museen seiner Ansicht nach nicht automatisch Rückgabeforderungen folgen sollen, obwohl die Objekte aus ehemaligen Kolonien stammen. Hunt hält die Debatte um Rückgabe und Restitution von kolonialen Objekten für sehr wichtig, da dass V&A laut seiner Aussage "wuchs, je mehr das Britische Empire wuchs".
"In den Kolonien Großbritanniens und seinen Einflusszonen war die Sammlung von Objekten eng verknüpft mit der dominierenden Mentalität des Kolonialismus", schrieb er. Nichtsdestotrotz müsse man die Objekte aus ihren Zusammenhängen herauslösen, um erfolgreich zu sein.
Hunt wirbt für die Erschaffung von "universellen Museen", nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika und Asien. Diese würde seiner Meinung nach das "universelle, enzyklopädische Museum von seinen kolonialen Vorbedingungen befreien und ihm ermöglichen, zu einem Ort der kulturellen Verständigung zu werden".
Schwierigkeiten in Indien
Restitution bleibt kompliziert, nicht nur in der einstigen Kolonialmacht Großbritannien, sondern auch in Indien. Hier gibt es keine etablierten Prozesse, um Objekte in Empfang zu nehmen. Manche Experten sind der Ansicht, die indischen Behörden könnten solche Objekte nicht fachgerecht verwahren.
Auch der Diebstahl kultureller Erbgüter ist in Indien noch immer verbreitet. Die UNESCO weist darauf hin, dass die Armut im Land weiterhin dazu anregen würde, historische Kulturgüter zu stehlen. Außerdem seien historische Stätten nicht gut genug geschützt.
In "Blood Buddhas", einer Dokumentation über gestohlene Kulturgüter, beschäftigt sich Regisseur Nikhil Sing Rajputt auch damit, wie Objekte behandelt werden, die an Neu Delhi zurückgegeben worden sind. Die meisten der circa 28 Objekte, die zwischen 2014 und 2018 von den USA, Australien, Kanada und Deutschland restituiert worden sind, wurden an die Archaeological Survey of India (ASI) überreicht. Die ASI ist in Indien für kulturelle und historische Stätten zuständig. Die Objekte werden in einem ASI-Lagerhaus in Delhi gelagert, das nicht ausreichend vor Diebstahl oder klimatischen Schwankungen geschützt ist.
In den Augen mancher Inder sind das keine Gründe, die gegen eine Rückgabe sprechen. Der Abgeordnete Shashi Tharoor äußert sich dazu in "Blood Buddhas": "Die Tatsache, dass diese Objekte in Indien nur bis zu einem gewissen Grad geschützt sind, gibt niemandem das Recht, sie unter dem Vorwand zu stehlen, man kümmere sich besser um sie. Und überhaupt: Sie wurden nicht gestohlen, weil die Diebe glaubten, sie könnten sich besser um sie kümmern; sie wurden erst gestohlen, und dann haben sich die Diebe dafür im Nachhinein eine Rechtfertigung zurechtgelegt."
Anuraag Saxena vom India Pride Project stimmt zu, dass die indische Regierung nicht die höchsten Standards ansetzt, wenn es darum geht, kulturelle und historische Objekte zu schützen. Aber es gibt auch Hoffnung: "Es gibt immer wieder ein Gesetz und eine Verordnung hier und da, aber noch keine umfassende Gesetzgebung. Wir werden das aber noch schaffen", ist er überzeugt.
Adaption aus dem Englischen: Christine Lehnen