Ratlosigkeit auf Lesbos
21. März 2016In der Auffangstation Karatepe auf der Insel Lesbos und dem Registrierungs-Hotspot Moria, hat sich herumgesprochen, dass die Flüchtlinge evakuiert und nach Kavala in Nordgriechenland transportiert werden sollen. Am Hafen von Mytilene wartet schon die Riesenfähre "El.Venizelos" auf die unfreiwilligen Passagiere. Die Menschen haben Angst, dass sie in die Türkei abgeschoben werden. Es wäre das abrupte Ende einer Odyssee nach Europa.
Unsicherheit unter den Flüchtlingen
Nour, Mikrobiologin aus Damaskus, hält ihren kleinen Sohn in den Armen. Sie fragt den Bürgermeister von Lesbos, Spiros Galinos, wohin die Reise tatsächlich führe. Die Angst in ihren Augen ist unübersehbar. Galinos versichert, dass das Reiseziel Kavala sei. Dann weicht ihre Angst einem skeptischen Blick. Familienvater Mahmoud aus Syrien, umgeben von seiner Frau und drei Kindern, erzählt dem freundlichen Bürgermeister, dass er unbedingt nach Athen müsse, wo der Rest der Familie auf ihn warte. Er zeigt seine Fahrkarten, ausgestellt für den kommenden Mittwoch.
Galinos verspricht ihm, dass er wie geplant am Mittwoch Athen erreichen werde. Mahmoud ist die Erleichterung anzusehen. Trotz der Beteuerungen der lokalen Behörden weigern sich aber viele Flüchtlinge an Bord der "El.Venizelos" zu gehen. Die Fähre verlässt den Hafen halbleer und erreicht aus unerklärlichen Gründen weder Kavala noch die Türkei, sondern legt am Hafen von Eleusis bei Athen an.
Wir wollen die Opfer beschützen
Die Lage ist für alle Seiten unübersichtlich und eine ganze Reihe an Modalitäten des Abkommens zwischen Brüssel und Ankara sind noch nicht bekannt. Dabei hat man sich auf Lesbos in den letzten Monaten bemüht, Strukturen für die Registrierung und die Unterbringung der Flüchtlinge aufzubauen. Noch im Sommer kampierten in Zelten in und um die Hauptstadt Mytilene 30.000 Flüchtlinge, so viele wie die Einwohner der Stadt selbst. Seitdem sind eine Reihe von größeren und kleineren Lagern errichtet worden, versehen mit modernen Sanitätsanlagen und Spielplätzen. Auf der Insel sind über 180 Hilfsorganisationen tätig, etwa 2000 Freiwillige aus mehreren Ländern arbeiten für einen geordneten Empfang der Flüchtlinge. "Es war uns von Anfang an klar", sagt Galinos in Anspielung auch auf die Schließung der Balkanroute, "dass unsere Gäste, Flüchtlinge oder Migranten, Opfer der Krieges sind, die wir betreuen mussten. Das Problem sind nicht die Menschen, sondern die Bomben, die deren Häuser zerstören. Es gibt leider politische Entscheidungen, die die Opfer bestrafen. Wie wollten sie beschützen."
Eine Dauerbelastung für die Gesellschaft
Auch die Einwohner von Lesbos haben sich trotz der Wirtschaftskrise um die Neuankömmlinge gekümmert. Fast ein Drittel der Bevölkerung sind Nachfahren griechischer Flüchtlinge aus Kleinasien, die 1922 auf der Insel Zuflucht gesucht haben. Trotzdem ist das tägliche Drama der Gestrandeten und Ertrunkenen auch eine Dauerbelastung für die hiesige Gesellschaft. Hier auf Lesbos glaubt kaum einer, dass das Abkommen zwischen der EU und der Türkei die Anzahl der Flüchtlinge längerfristig drosseln wird. Seit Abschluss des EU-Türkei-Deals erreichen jede Nacht zehn überfüllte Boote die nördliche Küste der Insel. Und es gab bereits wieder zwei Tote. Die Ferieninsel Lesbos ist zu zu einer Flüchtlingsinsel mit unübersehbaren Folgen für den Tourismus geworden. Der Buchungsrückgang für den Sommer liegt bereits bei 80 Prozent - eine Hiobsbotschaft für unzählige Familien, die vom Tourismus abhängig sind.
Nur in Mytilene sind die Hotels im Moment ausgebucht: Helfer, Idealisten, Journalisten, Politiker sorgen für eine situationsbedingte Konjunktur. Aber was aus Lesbos längerfristig wird, ob wirklich weniger Flüchtlinge ankommen werden oder ob die Rückführung illegaler Migranten in die Türkei tatsächlich durchgeführt wird, all das steht in den Sternen. Die Menschen versuchen sich mit der neuen Situation anzufreunden, glauben sogar, dass ein kleiner Teil der Flüchtlinge sich auf der Insel integrieren könnte. Kein Zufall, dass das traditionsreiche Restaurant "Averof" an der Hafenpromenade mit zwei Schildern der arabische Kundschaft versichert, dass hier auch ohne Schweinefleisch gekocht wird.