"Wir haben die richtige Mentalität"
21. Juni 2020DW: Der sechste Titel der Vereinsgeschichte ist vorzeitig perfekt, der vierte in Serie. Wie zufrieden macht Sie das?
Ralf Kellermann: Vor der Saison haben der FC Bayern und wir die Meisterschaft als Ziel ausgesprochen. Dass wir dann am drittletzten Spieltag mit acht Punkten Vorsprung den Titel eingetütet haben, macht uns sehr glücklich - zumal es lange auf der Kippe stand, ob die Saison Corona-bedingt überhaupt zu Ende gespielt werden kann. Von daher war es eine ganz besondere Situation.
Ähnlich wie den Bayern in der Männer-Bundesliga hat auch die Corona-Pause auch die "Wölfinnen" offenkundig nicht aus dem Tritt gebracht. Wie fühlt sich so eine "Geister-Meisterschaft" an?
Für uns alle war es außergewöhnlich, und man möchte sich auch nicht daran gewöhnen. Wir waren die beste Mannschaft, wir haben auch schon vor Corona eine beeindruckende Serie hingelegt. Unter den aktuellen Bedingungen fehlt allerdings etwas die Emotionalität, nicht zuletzt weil die Fans nicht dabei sein können. . Aber man freut sich ja auch untereinander normalerweise ganz anders, umarmt sich beim Jubeln auch mal und lässt die Freude raus. Ich glaube, alle Beteiligten sind sich einig: Für den Moment geht es nicht anders, aber hoffentlich ändert es sich bald wieder
Wie hart hat die Corona-Krise den deutschen Frauenfußball getroffen?
Das ist schwer zu sagen, weil die Krise noch nicht vorbei ist. Aber wir sind die einzige Topliga im Frauenfußball, die ihre Liga-Saison zu Ende spielen konnte. Damit haben wir uns international sehr viel Anerkennung erarbeitet. Wir hoffen, dass wir dadurch den Anschluss, den wir zeitweise im Vergleich zu Frankreich, England und Spanien verloren hatten, wiederherstellen können.
Die "Wölfinnen" haben noch kein Spiel in dieser Bundesliga-Saison verloren, mit Abstand die meisten Tore erzielt und auch die wenigsten kassiert. Ist es übertrieben zu sagen, das Team ist in Deutschland eine Klasse für sich?
Normalerweise sind die Bayern mit uns komplett auf Augenhöhe, was den Kader angeht. Diese beiden Vereine, Wolfsburg und Bayern, heben sich doch deutlich vom Rest der Liga ab, ohne das despektierlich zu meinen. Hoffenheim konnte lange mithalten, ist ja auch immer noch im Rennen um den zweiten Platz mit dabei. Aber man muss sagen, dass sich die Schere zwischen den ersten zwei, drei Klubs und den anderen Bundesligisten weiter geöffnet hat. Das war vor zwei, drei Jahren noch deutlich enger beisammen. Mittlerweile spielen viele Teams gegen uns fast wie im Handball: hinten mit einer Fünferkette, davor eine Viererkette und eine Stürmerin. Wenn man gegen uns anders spielt, kassiert man aktuell wahrscheinlich auch deutlich mehr Gegentore.
Sie können noch zwei weitere Titel holen, im DFB-Pokal und in der Champions League. Seit Mittwoch steht auch fest, dass die Champions League bei einem Finalturnier in Spanien zu Ende gespielt wird – im K.o.-Modus, also ohne Rückspiel. Erhöht das die Chance Ihres Teams?
Ich war hundertprozentig überzeugt, dass wir mit unserer starken Mannschaft im normalen Modus ins Finale kommen und eine richtig gute Chance haben würden, den Pokal auch zu gewinnen. Jetzt mag ich das gar nicht mehr bewerten. In einem K.o.-Spiel ist alles möglich, gerade wenn man mal einen schlechten Tag hat. Außerdem wissen wir ja noch gar nicht, welche Mannschaft dann spielen wird. Die Spielerinnen, die nach der Saison zu einem anderen Verein wechseln, stehen uns beim Finalturnier im August nicht mehr zur Verfügung. Und die Entscheidung der UEFA steht noch aus, ob wir dann neue Spielerinnen schon einsetzen dürfen.
Seit 2013 hat die Mannschaft in jedem Jahr mindestens einen Titel gewonnen, insgesamt den aktuellen Meistertitel mitgerechnet 14. Verraten Sie uns das Erfolgsgeheimnis der VfL-Fußballerinnen!
Die Meisterschaft 2013 kam für uns selbst überraschend früh, das Triple war sensationell. Damals waren wir von der Besetzung des Kaders definitiv noch nicht die beste deutsche Mannschaft. Wir sind einfach Meister geworden, auch weil viele uns unterschätzt haben. Dass wir diesen Erfolg bestätigen konnten, ist außergewöhnlich. Das Gesamtpaket stimmt einfach. Wir haben in der Mannschaft, im Trainerteam und allen anderen Bereichen, die beteiligt sind, die richtige Mentalität. Beispielhaft ist für mich Alexandra Popp. Sie kam als junge Spielerin zu uns, obwohl sie andernorts in Barcelona, Paris oder London deutlich mehr hätte verdienen können. Sie fühlt sich aber bei uns einfach wohl. Sie gibt immer 100 Prozent, egal ob im Spiel beim Tabellenletzten oder im Champions-League-Finale. Das ist die Mentalität, die wir hier haben.
Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die im Vergleich zu den meisten Frauen-Bundesligisten komfortable finanzielle Ausstattung des Vereins?
Man muss keinen Hehl daraus machen, dass wir aufgrund der wirtschaftlichen Möglichkeiten, die wir aktuell haben, eigentlich immer Erster oder Zweiter werden müssen. Aber wir haben es 2013 auch geschafft, ohne diese finanziellen Möglichkeiten. Die Mannschaft ist immer sportlich in Vorleistung getreten, und der Verein hat mit seiner Unterstützung nachgezogen. Wenn ich jetzt Spielerinnen für unseren Klub begeistern will und zeige ihnen das Trainingsgelände und das Stadion, dann können wir damit echt punkten.
Der VfL Wolfsburg gilt auch international als Topadresse. Stehen die Spitzenspielerinnen aus dem Ausland vor ihrem Büro Schlange, um sich den Wölfinnen anzuschließen?
(Lacht) Nein. Wir sind zwar seit Jahren international top, aber von den Bedingungen her gehören wir nicht zu den Top acht. Das muss man realistisch sehen. Stellen Sie sich vor, Sie wären 25 Jahre alt, eine europäische Topspielerin und haben die Chance zum FC Barcelona zu gehen, Paris St. Germain, Olympique Lyon, FC Chelsea, FC Arsenal, Manchester City, FC Bayern und Wolfsburg. Da kann man sich ausrechnen, dass es bei den erstgenannten Klubs wirtschaftlich definitiv anders aussieht als bei uns, dass die Strahlkraft dieser Vereine und Städte eine andere ist. Wir können dem die kleinere, familiärere Atmosphäre in unserem Klub und unserer Stadt entgegensetzen. In Wolfsburg und Umgebung findet man eine sehr hohe Lebensqualität vor, die oftmals von Außenstehenden unterschätzt wird.
Ralf Kellermann (51 Jahre alt) war in seiner aktiven Fußballkarriere Torwart. Mit dem MSV Duisburg stieg er 1991 in die Bundesliga auf, war dann aber nur die Nummer 3 des Klubs zwischen den Pfosten. Später spielte er unter anderen für den FSV Frankfurt in der 2. und den SC Paderborn in der 3. Liga. Von 2008 bis 2017 war Kellermann Trainer und sportlicher Leiter des Frauen-Teams des VfL Wolfsburg und holte mit ihm neun Titel. Größter Erfolg war der Gewinn des Triples im Jahr 2013, damals wurde Kellermann zum "Welt-Frauentrainer des Jahres" gekürt. 2017 gab er den Trainerposten an Stephan Lerch ab, der bis dahin sein Co-Trainer war. Seitdem konzentriert sich Kellermann auf seine Arbeit als Sportdirektor.
Das Interview führte Stefan Nestler.