Rafik Schami: "Jedes Exil ist eine Wunde"
22. November 2015DW: Ihr neuer Roman "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten" ist ein Roman über die Heimkehr des Exil-Syrers Salman nach Damaskus, nach 40 Jahren. Sie schreiben, dass Salman eine "Exilwunde" hat. Was meinen Sie damit?
Rafik Schami: Das Exil ist eine Wunde, wenn man Ihnen das Einfachste verbietet: Die eigene Mutter zu begraben oder der Hochzeit eines Bruders beizuwohnen. Die Orte ihrer Kindheit zu besuchen, ohne sie zu romantisieren. Da bleibt eine Wunde, da hilft kein Gespräch mit einem Freund oder einer Freundin vor Ort, da hilft nur die Ernüchterung durch die Rückkehr in die ursprüngliche Heimat, denn diese Wunde verursacht, dass man immer eine Idylle aufbaut und diese Heimat idealisiert.
Sie erzählen im Roman von Damaskus, vom Zusammenleben der Religionen und auch von der Macht der Sippe. Welche Rolle spielt die Sippe heute noch in Syrien?
Die Sippe ist mehr als die Familie. Das ist ein wirtschaftliches, politisches und kulturelles System. Sie war eine geniale Erfindung, um in der Wüste zu überleben. Der Zusammenhalt, die Loyalität führte zum Erfolg einer Sippe oder zu ihrem Niedergang. Es kam oft vor, dass eine Sippe vernichtet wurde, weil sich jemand in einem Krieg übernommen hatte. Die Sippe heute gibt Geborgenheit auf Kosten der Freiheit, auf Kosten der Würde der einzelnen Menschen, auf Kosten der Demokratie. Es gibt keine Opposition in der Sippe, das gilt als Verrat. Deshalb sind die Herrscher bei uns und in allen arabischen Ländern sehr schnell mit dem Wort "Verräter". Bist Du ein Oppositioneller, landest Du im Gefängnis. Deshalb ist das ein großes Hindernis auf dem Weg zur Demokratisierung.
Sie leben seit 44 Jahren in Deutschland. Wie nah ist Ihnen das heutige Syrien überhaupt noch, wie halten Sie den Kontakt?
Der Kontakt mit syrischen Freunden und Verwandten ist sehr intensiv. Ich telefoniere täglich, wir schreiben uns Emails. Treffen sind schwieriger. Von denen, die im Exil leben, wohnen viele in Paris oder London. Aber wir ergänzen einander, indem wir Informationen austauschen.
Sie sind einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Sind Ihre Bücher auch ins Arabische übersetzt worden?
Es hat einen großen Sprung gegeben durch einen mutigen Verleger, der im Libanon ist. Es sind inzwischen fünf meiner Bücher veröffentlicht worden, ohne Zensur.
Wodurch unterscheiden sich die Reaktionen der arabischen Leser von denen der deutschen?
Die deutschen Leser bewundern die deutsche Sprache, die Art, wie ich schreibe. Sie bewundern den Informationsgehalt. Sie sagen: 'Wir nehmen Ihren Roman und gehen damit durch die Straßen und das stimmt alles'. Die Araber interessieren sich nicht dafür, ob das stimmt oder nicht stimmt. Sie interessieren sich für die Schläge, die ich gegen die Sitten und Gebräuche austeile.
Kommen wir noch einmal auf den Roman zurück. Ist Salmans Heimkehr nach Damaskus auch die Erfüllung eines Ihrer Wünsche?
Es ist ein Wunsch, der mit Angst behaftet ist. Ich lasse lieber Salman gehen und in die Falle geraten, als das selbst zu tun. Das ist der Vorteil von Literatur, man führt die Prozesse präzise durch, aber ohne die Gefahr für den eigenen Leib und die Seele. Das ist die Gemeinheit der Literaten. Die sitzen am Tisch und schicken ihre Helden in den Tod.
Gab es für Sie nie die Chance, nach Syrien zurückzukehren?
Es gab ein Angebot vor drei Jahren. Plötzlich war ich nicht mehr Verräter, sondern ich war der bekannteste syrische Autor weltweit. Ich hätte es makaber gefunden, zurückzukehren, im Fernsehen aufzutreten und kulturelle Vorträge zu halten, während Freunde von mir im Gefängnis sitzen. Das kann ich nicht. Dann wäre mein Exil umsonst gewesen.
Sie haben den Exilanten und auch den Flüchtlingen von heute voraus, dass Sie wissen oder ahnen, dass Sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren werden. Sprechen Sie mit Exil-Syrern darüber?
Erzählen heißt für mich: Hoffnung haben. Hätte ich keine Hoffnung, hätte ich nicht erzählt. Auch Sophia nicht. Diese Hoffnung bleibt. Sie ist eine Illusion zur Zeit, wenn ich die Zerstörung anschaue. Trotzdem, ja, ich verstehe das. Wir sprechen darüber, wie schwer eine Rückkehr geworden ist. Aber trotzdem erschreckt mich das nicht. Es gibt genug Aufgaben danach. Ich würde versuchen, meinen Beitrag zum Aufbau zu leisten, wenn es eine gewisse Sicherheit gäbe. Ich bin kein Märtyrer, ich bin kein Abenteurer. Ich glaube auch, dass alle Exilanten - egal, ob sie jetzt neu gekommen sind oder nicht - immer die selben, diese tiefen Verzweiflungsphasen durchmachen. Und dann richten sie sich wieder auf.
Wie beobachten Sie die Flüchtlingswelle aus Syrien, die jetzt nach Europa kommt?
Europa ist gespalten, jede einzelne Gesellschaft ist gespalten: Was machen wir mit den Flüchtlingen? Zunächst einmal sage ich allen Rechten und allen Populisten: Niemand verlässt sein Haus freiwillig, niemand! Auch in der kleinen Hütte bleiben die Menschen lieber in ihrer Umgebung, in ihrer Sprache. Ich meine, das ist ein Resultat einer langen Politik und nicht eine plötzliche Laune der Menschen. Das ist eine große Misere, die diese Menschen vertrieben hat, die heißt Bürgerkrieg, die heißt Diktatur. Die heißt europäische Heuchelei. Die Deutschen sind nun aber zu schnell vorangegangen und haben sich isoliert. Das wird Folgen haben in der Gesellschaft. Nachdem die Euphorie vorbei ist, kommt der nüchterne Alltag und der nüchterne Alltag ist schwer.
Rafik Schami, 69, ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. Seine Romane, Essays und Kinderbücher erscheinen in Millionenauflage und sind in viele Sprachen übersetzt worden. 1971 kam der gebürtige Syrer nach Deutschland, seine Reaktion auf die Machtübernahme durch den Assad-Clan. Gerade ist sein neuer Roman erschienen: "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten".