Hitlers "Mein Kampf" als kritische Neuausgabe
28. Januar 2016Da liegt es nun auf dem Büchertisch, das Machwerk. Zwei dicke, großformatige Bände, unhandliche sechs Kilo schwer. Nicht für eine mobile Handhabung geeignet, eher für die Bibliotheksnutzung konzipiert. Der schlichte Leinen-Einband: steingrau, unspektakulär aufgemacht. Kein schreiendes Rot, keine historische Typographie. Bereits der Titel ist eine klare Ansage des Historikerteams vom renommierten Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ): "Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition." Der Vorname des Autors kommt nicht vor.
Zur Buchvorstellung im Bonner Haus der Geschichte sind knapp 500 neugierige Zuhörer gekommen. Der Andrang ist groß, der Platz im Saal reicht nicht ansatzweise aus. Im Foyer kann alles am Bildschirm mitverfolgt werden. Auf dem Podium: aus München Herausgeber und Projektleiter Christian Hartmann und der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Andreas Wirsching. Außerdem ist der Literaturwissenschaftler Helmut Kiesel von der Universität Heidelberg eingeladen worden.
Große Nachfrage aus dem Ausland
Hans Walter Hütter, Präsident der "Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" und an diesem Abend Moderator, konstatiert zu Beginn den erstaunlichen Erfolg der Kritischen Edition, die seit 8. Januar 2016 im Buchhandel erhältlich ist - theoretisch: Schon am ersten Auslieferungstag sei die Erstauflage von 4000 Exemplaren vergriffen gewesen. Und die Nachbestellungen reißen nicht ab: 15.000 seien schon nachgedruckt, die 3. Auflage bereits in Vorbereitung. "Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Wäre es ein Misserfolg geworden, wäre nur Dr. Hartmann der Schurke, der alles zu verantworten hätte." Lacher im Publikum.
Projektleiter Christian Hartmann kann sich das enorme Interesse nur so erklären: "Einmal ist dieses Buch eines der letzten echten Relikte des Dritten Reiches, was noch da ist. Und der zweite Punkt: Das ist ein Buch, das in ganz vielen deutschen Familien noch im Bewusstsein vorhanden ist. 'Mein Kampf' ist sozusagen der letzte Rest vom Dritten Reich."
Hitler war Fremdwort-Fanatiker
Auf insgesamt 2000 Seiten, typographisch sehr übersichtlich mit 3500 Fußnoten und wissenschaftlichen Anmerkungen "umzingelt", wie Hartmann es nennt, kann man den historischen Text von Hitlers ideologischer Kampfschrift Seite für Seite nachlesen. 780 Seiten umfasst das Original.
"Man bleibt hängen an den kleinen Aufsätzen, die den Originaltext begleiten", merkt Hütter anerkennend an. Für das Herausgeber-Team habe die jahrelange intensive Arbeit an dem Text immer etwas Quälendes gehabt, berichtet Hartmann, seit 1993 Historiker am IfZ: "Hitler ist ein Fremdwort-Fanatiker gewesen." Mit Vorliebe habe er Phrasen und fremde Zitate verwendet, die er gar nicht verstanden, sondern nur abgeschrieben habe.
Mehr als zwölf Millionen Mal wurde Hitlers Propagandaschrift bis 1945 gedruckt und unters deutsche Volk gebracht. Im Ausland kamen zusätzlich zahlreiche Übersetzungen heraus. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Nachdruck in Deutschland von den Alliierten verboten. Bis heute kursieren weltweit mehr als tausend unterschiedliche Ausgaben in Antiquariaten, Bibliotheken und Onlineportalen.
Es gibt kaum ein Buch, das mit so vielen Mythen überfrachtet ist, das so viel Abscheu und Ängste weckt, Neugier und Spekulation hervorruft und nicht zuletzt mit der Aura des Verbotenen wirbt", ist auf der Internetseite des IfZ zu lesen. Mehr als vier Jahre wurde intensiv daran gearbeitet. Das Resultat dieses auch politisch ambitionierten Buch-Projektes: rundum gelungen in Aufmachung, Inhalt, Faktendichte und historischer Einordnung des Textes, auch wenn einige der sehr detaillierten Anmerkungen mühsam zu lesen sind.
Die Reaktionen erster Leser und der Fachwelt sind auch überwiegend positiv. Der renommierte Hitler-Biograf Ian Kershaw lobt die Kärrnerarbeit des IfZ bei der Pressekonferenz in München: "Die Edition ist ohne Zweifel eine erstklassige wissenschaftliche Leistung. Es ist schwer zu sehen, wie sie noch hätte verbessert werden können." Der Historiker Wolfgang Benz spricht der kommentierten Neuauflage "große Anerkennung" aus: "Indem die Editoren den Text in den historischen Kontext einbetten, tragen sie zur Entzauberung und Historisierung von 'Mein Kampf' bei." Fachkollege Götz Aly und der britische Literaturwissenschaftler Jeremy Adler äußern sich dagegen extrem kritisch.
Der Sekretärin in die Maschine diktiert
Spannend und unterhaltsam liest sich allein schon die Entstehungsgeschichte von "Mein Kampf". Der damals noch unbekannte Adolf Hitler war 1923 mit seinem Münchner Putschversuch grandios gescheitert: Er wurde verhaftet, die Bewegung niedergeschlagen. In seiner Gefängniszelle in der Festung Landsberg schrieb er im Jahr darauf seinen ganzen Groll über die politischen Verhältnisse der Weimarer Republik und die Niederlage des 1. Weltkriegs nieder. Band 1 trägt deshalb den Titel "Eine Abrechnung".
264 Tage hatte der Partei-Führer Zeit, über seine eigenen strategischen Pläne und einen Neuanfang seiner verbotenen NSDAP nachzudenken. Sein rassistisches Pamphlet tippte er in seiner Gefängniszelle, die komfortabel ausgestattet war, gleich in die Schreibmaschine. Beim Verfassen von Band 2 stand ihm schon eine Sekretärin zur Verfügung, der er seine verquasten Heilsvisionen nur noch diktieren musste. Die Hass-Tiraden, seine neuartige Lebensraum-Ideologie und die antidemokratischen Attacken gegen das "marxistisch verseuchte Judentum" brachten ihm große Popularität bei seinen Parteigenossen ein – und stärkten seine Führungsposition.
Kein Fußnoten-Dschungel
Das Wissenschaftler-Team des IfZ hat diese Fakten mit den aktuellen Hitler-Biografien abgeglichen. Alles ist auf dem neusten Stand der historischen Forschung. Kapitel über Hitlers Sprache, die Parteigeschichte der NSDAP und die Umsetzung von Hitlers Ideologie in Rassenpolitik werden ergänzt durch die Typographie-Geschichte der unterschiedlichen Ausgaben von "Mein Kampf". Nach 1933 setzte sich die modernere, besser lesbare Antiqua-Schrift durch.
Die Anmerkungen der Münchner Wissenschaftler reflektieren den Originaltext in kleinsten Details auf Augenhöhe und nicht in einem versteckten Fußnoten-Apparat. Hitlers Lügen und Halbwahrheiten werden biografisch und zeitkritisch zurechtgerückt, historische Zusammenhänge erklärt. Die Geschichte des unaufhaltsamen Aufstiegs Adolf Hitlers bis zu seiner diktatorischen Alleinherrschaft wird - quasi parallel zum Text - nachgezeichnet.
Erschreckend, wie klar und deutlich die kommentierte Neuausgabe von "Mein Kampf" die Stoßrichtung dieser Kampfschrift und die spätere politische Entwicklung des sogenannten Dritten Reiches schon in ihren frühen Ansätzen erkennen lässt. "Ich wende mich mit diesem Werk nicht an Fremde, sondern an diejenigen Anhänger der Bewegung, die mit dem Herzen ihr gehören und deren Verstand nach inniger Aufklärung strebt", schrieb Hitler damals in seinem Vorwort.
Kritische Edition mit Standpunkt
Man solle den Text auf keinen Fall unterschätzen, merkt Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel auf dem Podium im Haus der Geschichte an. Als Vorbereitung auf eine Tagung habe er sich vor Jahren intensiv mit der Original-Ausgabe von "Mein Kampf" beschäftigt - unter der Fragestellung: "War Hitler ein guter Schriftsteller?" Tagelang habe er das Buch quasi im Selbstversuch textkritisch gelesen - mit wachsender Faszination, berichtet er. "Die These, Hitlers Werk sei unlesbar, ist unhaltbar. Aber da stand ich mit meiner Meinung so ziemlich allein da."
Sein Plädoyer für eine Kritische Edition sei damals leider ungehört verhallt, gibt Kiesel rückblickend zu. Aber er sei bei seiner Meinung geblieben: Das einzige was helfe, den Mythos dieser Kampfschrift zu zerstören, sei eine "radikale Dekonstruktion". Insofern sei er hocherfreut, dass diese in Form der zwei Editions-Bände des IfZ nun vorläge.
IfZ-Direktor Andreas Wirsching sieht das genauso: Die kommentierte Neuveröffentlichung "Hitler, Mein Kampf" - der Ladenpreis liegt bei 59 Euro - sei eine Edition mit Standpunkt. Das wissenschaftliche Team des IfZ verstünde sie als Beitrag zur historisch-politischen Aufklärung in der Bundesrepublik Deutschland - auch für ein breites Lesepublikum. Diese Sichtweise hätte auch Anerkennung aus jüdischen Kreisen erhalten. "Wichtig ist die Auseinandersetzung mit dem Symbol. Wir können mit so einem Werk nicht umgehen wie mit einer normalen historischen Quelle", so Wirsching.
Aus dem Ausland lägen inzwischen 35-40 Anfragen nach Übersetzungsrechten vor, berichtet der Institutsdirektor im vollbesetzten Saal im Haus der Geschichte. "Wir sind dafür offen, aber es gibt derzeit noch keinen Vertrag für irgendeine Sprache, in der 'Hitler, Mein Kampf' erscheinen könnte", sagt er abschließend. Draußen im Foyer räumt die Buchhändlerin Verpackungshüllen und Kartons zur Seite: Alle Exemplare sind restlos verkauft. Die Nachfrage lasse nicht nach, sagt sie, bevor sie die Kasse einpackt.