Der "Putinversteher" geht um die Welt
9. April 2022Wenn ein Wikipedia-Eintrag ein Indikator dafür ist, was man heutzutage wissen muss, dann sollte die Welt einen Blick auf die neue englischsprachige Seite für den "Putinversteher" werfen. Für deutsche Muttersprachler erschließt sich der Begriff von selbst: Es geht um jemanden, der Verständnis für den russischen Präsidenten Wladmir Putin hat.
Es ist nicht das erste deutsche Wort, das sich über die Jahre in der englischen Sprache etabliert hat. Dazu gehört zum Beispiel der Terminus "Lügenpresse", der ursprünglich von den Nazis eingeführt wurde. Die Absicht dahinter: Medienberichte zu diskreditieren, die nicht der eigenen Ideologie folgen. In den letzten Jahren feierte die "Lügenpresse" ihr Comeback in der rechtspopulistischen Partei AfD (Alternative für Deutschland) und unter Donald-Trump-Anhängern.
Wenn man im Deutschen einen "Versteher" ans Wortende hängt, dann hat das einen ironischen und spöttischen Unterton, hat auch die englische Zeitung "The Economist" festgestellt. So beschreibt das Wort "Frauenversteher" einen Mann, der sich seiner besonders guten Beziehung zu Frauen rühmt. Ein "Putinversteher" ist folglich jemand, der Empathie für den russischen Präsidenten empfindet. Schon 2014, nach der Annexion der Krim, war der Begriff negativ belastet - seit dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar ist er schon fast ein Schimpfwort.
Als Russland den Krieg begann, betonten "Putinversteher", darunter prominente deutsche Politiker und Talk Show-Experten, dass die Ausweitung der NATO nach Osten von Russland als reale Bedrohung verstanden werden musste. Die Invasion der Ukraine wurde mit dem Einmarsch der USA in den Irak im Jahr 2003 verglichen, einem weiteren nicht zu rechtfertigenden Krieg.
"Putinversteher" heißen zwar die derzeitigen Gewaltexzesse nicht gut, aber - so kann man es bei Wikipedia nachlesen - in ihrer Haltung gegenüber dem russischen Präsidenten und seinem Führungsstil schwingt ein "Ja, aber wir können seine Position verstehen" mit. Gern greifen "Putinversteher" auch zur "Whataboutism"-Strategie: Sie reagieren auf eine Anschuldigung mit einer schwierigen Gegenfrage. Oder sie verweisen bei Kritik an Russland darauf, dass auch der Westen schlimme Taten begangen habe.
"Putinversteher" gibt es in allen Parteien
"Putinversteher" sind vor allem, aber nicht nur in populistischen Parteien zu Hause. Ihre Grundhaltung zieht sich quer durch das politische Spektrum Deutschlands, wobei einige Politiker, die für die Annexion der Krim noch Verständnis zeigten, jetzt Abstand nehmen oder sich zumindest nicht mehr öffentlich als "Putinversteher" zu erkennen geben.
So wie andere rechtspopulistische Parteien in Europa, hat auch die AfD in Deutschland enge Beziehungen zu Russland gepflegt. Nach dem Einmarsch in die Ukraine kämpft die Partei jetzt um eine einheitliche Position.
Auch Sahra Wagenknecht, die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, hatte Putins Handeln immer wieder gerechtfertigt. "Vielleicht sollten wir Russland einfach mal ernst nehmen und seine Sicherheitsinteressen respektieren", sagte sie im Februar in einer Talkshow - wenige Tage vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine.
Begriff im Ausland schon länger im Umlauf
Noch vor Kriegsbeginn und bevor der Begriff "Putinversteher" Eingang in die Wikipedia-Enzyklopädie fand, tauchte er mehrfach in englischsprachigen Artikeln auf. Im Januar 2021 veröffentlichte Riddle - ein politisches Analyse-Medium im Netz mit Fokus auf Russland - einen Artikel des Historikers und Politikwissenschaftlers Dmitiri Stratievski. Er stellte darin die Frage, ob Armin Laschet, damals noch der Kopf der Christlich Demokratischen Union (CDU), eine Art "merkelianischer Putinversteher" sei, weil er den Bezug russischen Gases für Deutschland unterstütze - so wie Angela Merkel es getan hatte.
Der Ökonomieprofessor Paul Gregory von der Houston Universität benutzte den Terminus schon im April 2014 in einem Artikel: "Empathie für den Teufel: Wie Deutschlands Putinversteher Russland schützen". Gregory thematisierte darin die Tatsache, dass sich hochrangige deutsche Politiker trotz Menschenrechtsverletzungen und Krim-Annexion an Russlands Seite gestellt hätten - allen voran der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, im Amt von 1998 bis 2005, der einer der "ungeheuerlichsten Putinversteher" sei.
Schröder, der das Gaspipeline-Projekt "Nordstream" während seiner Kanzlerschaft gemeinsam mit Putin aus der Taufe hob, wurde später Aufsichtsrat des staatlichen russischen Energiekonzerns Rosneft. Er ist ein enger persönlicher Freund des russischen Präsidenten. Auch nach Russlands Angriff auf die Ukraine kam ihm kein Wort der Kritik über die Lippen. Die Folge war, dass das gesamte Team, das ihm als Altkanzler im Bundestag zusteht, geschlossen kündigte. Mitte März flog Schröder nach Moskau, um mit Putin zu reden - über das Gespräch wurde nichts bekannt.
Da täglich neue Horrormeldungen aus der Ukraine bekannt werden - etwa die Ermordung von Zivilisten und Massengräber wie die in Butscha - werden in Deutschland immer mehr Rufe laut, die auch Sanktionen gegen Altkanzler Schröder fordern. Die typischen Argumente der "Putinversteher" entbehren nämlich mittlerweile jeder Glaubwürdigkeit.
Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords