Krieg setzt EU-Finanzen unter Druck
15. März 2022Knapp drei Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine trafen sich die EU-Finanzminister in Brüssel, um zu beraten, wie mit den Folgen des Krieges und den Folgen der scharfen Sanktionen gegen Russland umgegangen werden soll. Das Ergebnis ist allgemeines Abwarten. "Man braucht eine starke, gemeinsame Antwort", sagte der EU-Kommissar für Wirtschaft, Paolo Gentiloni.
Wie diese starke Antwort für die Wirtschaft der Euro-Zone und die Fiskalpolitik lauten soll, ließ Gentiloni offen. Klar ist nur, dass die EU nicht wie geplant im kommenden Jahr zu einer moderaten Schuldenpolitik und den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zurückkehren wird. Diese Regeln für Neuverschuldung und Gesamtverschuldung waren ja bereits wegen der Corona-Pandemie ausgesetzt worden. Kommissar Gentiloni gab an, dass die Schulden der Staaten mit der Gemeinschaftswährung Euro bereits jetzt bei knapp 100 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Ein historischer Höchststand, ohne dass Kriegsfolgen berücksichtigt wären.
Viel Unsicherheit
Der Chef der Euro-Gruppe, der irische Finanzminister Paschal Donohoe, geht davon aus, dass die Kosten des Krieges sich überall in Europa zeigen werden. Natürlich seien sie nicht mit dem menschlichen Leiden in der Ukraine zu vergleichen. "Wir sind eigentlich ganz stark in diese neue Krise gestartet", meint Donohoe und verwies darauf, dass das Wirtschaftswachstum nach der Pandemie - gestützt vom Wiederaufbaufonds der EU - wieder anzog. Das hätte dann dazu genutzt werden sollen, um aus den angehäuften Schulden herauszuwachsen. Hätte. Denn diese Rechnung geht wegen des russischen Angriffskrieges nun nicht mehr auf.
"Der Krieg wird ernste Auswirkungen haben, weil die Preise für Güter und Rohstoffe steigen, weil die Inflation steigt. Es geht auch um die Haushaltspolitik, die einige Mitgliedsstaaten einschlagen müssen, um mit den Energiepreisen und der Flüchtlingskrise fertig zu werden", warnte Wirtschaftskommissar Genitloni. "Wir müssen in diesen unsicheren Zeiten darauf vorbereitet sein, unsere Politik koordiniert und beweglich zu halten, das heißt: wir müssen uns ständig anpassen."
Keine klaren Voraussagen
Niemand könne im Moment seriöse Prognosen für die Wirtschaftsentwicklung in diesem Jahr abgeben. Das hänge sehr von der Dauer des Krieges ab, sagte Gentiloni. Bundesfinanzminister Christian Lindner zeigte sich gedämpft optimistisch und meinte, Wachstum sei nach wie vor möglich. Die Europäische Zentralbank (EZB) aber geht in ihrer Analyse für dieses Jahr eher von einer Stagflation aus, also einer Kombination aus Null-Wachstum und einer zu hohen Geldentwertung oder Inflation. Eine verlässliche Prognose könne die EU-Kommission erst im Mai vorlegen, kündigte Gentiloni an.
Einige EU-Staaten wollen den sozialen Folgen der explodierenden Preise für Gas, Öl und Strom mit Steuersenkungen oder Rabatten an der Zapfsäule begegnen, wie das Frankreich und Deutschland jetzt offenbar vorhaben. "Wir sind gemeinsam der Auffassung, dass wir schnelle, gezielte, befristete Unterstützung für die Wirtschaft und die Bevölkerung organisieren müssen. Es geht darum, die negativen Auswirkungen abzufedern", sagte Bundesfinanzminister Lindner. Die Betonung legte er auf "kurzfristig", denn Rabatte auf Benzin und Zuschüsse zu Heizkosten sind für die Staatskassen teuer. Auf Dauer ließen sich die Energiekosten nicht vom Staat subventionieren, heißt es von den Experten in der EU.
Die Energiepreise, die ja bereits vor dem Kriegsausbruch exorbitant gestiegen waren, beruhen zurzeit auf den Erwartungen in den Märkten, dass es noch schlimmer werden könnte. Eine wirkliche, physische Verknappung von Öl oder Gas auf den Weltmärkten gibt es ja noch gar nicht, weil Russland weiter liefert und der größte Kunde, nämlich die EU, kein Embargo gegen Lieferungen aus Russland verhängen wird. Das wurde auf dem letzten Gipfeltreffen der EU in Versailles letzte Woche noch einmal bestätigt.
Neue "Ideen", aber kein zweiter Aufbau-Fonds
Die Finanzminister der EU denken jetzt darüber nach, wie die Preisbildung für Energie und Strom neu geordnet werden könnte. Die Bindung der Strompreise an den Gaspreis etwa scheint vielen inzwischen überholt. Italien und Frankreich machen sich dafür stark, einen neuen EU-Fonds für die Kriegsfolgen aufzulegen, der ähnlich funktionieren soll wie der Aufbau-Fonds nach der Corona-Krise. Dieser Aufbau-Fonds wurde zum ersten Mal in der Geschichte der EU mit gemeinsamen Schulden finanziert und umfasst bis zu 750 Milliarden Euro. Einen neuen mit Schulden finanzierten Fonds lehnen Deutschland, die Niederlande, Österreich und andere allerdings ab. Erst einmal solle das Geld investiert werden, dass sich im Corona-Fonds und im regulären Haushalt der EU fände, heißt es aus dem deutschen Finanzministerium. Eine Mehrheit der EU-Staaten hatte beim Gipfeltreffen letzte Woche in Versailles ein italienisch-französischen Vorstoß abgelehnt. Beschlossen wurde lediglich ein neues "Investitionsmodell" für Klimaschutz und Verteidigungsausgaben zu entwickeln.
Über neue "Ideen" zur Finanzierung von Kriegs- und Verteidigungslasten werde beraten werden, so der Chef der Euro-Gruppe, Paschal Donohoe. Klar sei heute nur eines, sagte EU-Wirtschaftskommissar Gentiloni: "Ein Rückkehr zu den normalen Regeln wird es nicht geben."
"Kompletter Umbau"
Jean Pisani-Ferry, Ökonom bei der Brüsseler Wirtschaftsdenkfabrik Bruegel, macht in einer Analyse folgende Rechnung auf. Die EU-Staaten müssten alleine in diesem Jahr 50 Milliarden Euro aufwenden, um den Preisschock bei Energie, Rohstoffen und Lebensmitteln abzufedern. Hinzu kommen 75 Milliarden Euro für die Loslösung von russischen Energielieferungen. Weitere 30 Milliarden werden für Flüchtlingshilfe und Hilfslieferungen fällig. Mindestens 20 Milliarden Euro kommen für erhöhte Verteidigungsausgaben dazu.
Die EU müsse sich von der Hoffnung auf Erholung nach der Corona-Pandemie verabschieden, meint Jean Pisani-Ferry. "Auf lange Sicht geht es für die EU um einen Umbau des gesamten Politiksystems, dass Haushaltspolitik, makroökonomische Ziele, Marktregulierungen und die Aufgabenteilung zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten umkrempeln wird."