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"Angst ist das Gefährlichste"

9. Januar 2018

Marija Aljochina, eine der beiden Frontfrauen der systemkritischen Punkrock-Band Pussy Riot, hat mit der DW darüber gesprochen, ob es einen "russischen Feminismus" gibt - und warum man keine Angst vor Putin haben darf.

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Marija Aljochina, Ex-Frontfrau von Pussy Riot, beim DW-Gespräch in Berlin am 8. Januar 2018
Bild: DW/A. Boutsko

Die Augen leuchten blau, die Fingernägel ebenso: Marija Aljochina, 29, sitzt im Berliner Club "SO 36" und raucht Kette. Aus dem Fenster ist ein Geschäft des Frauenkollektivs "Kraut und Rüben" zu sehen, nebenan prangert ein Transparent den Kapitalismus als "Schweinesystem" an – Kreuzberg eben. Aljochina ist eine der beiden Frontfrauen von Pussy Riot. Vor sechs Jahren machte ein "Punk-Gebet" in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale sie weltberühmt - und kostete die junge Frau zwei Jahre Straflagerhaft. Ihre Erfahrungen reflektierte sie im Buch "Riot Days -Tage des Aufstands". Anlass des Gesprächs ist der Auftakt der Deutschland-Tournee des "Riot-Theaters" - einer Performance frei nach dem Buch.

DW: Marija, heute startet deine große Tournee durch Deutschland, bis Ende Januar werdet ihr in zehn Städten auftreten. Ausgangspunkt ist "Riot days", das Buch, das du unter dem Eindruck während und vor allem nach der Aktion in der Christus-Erlöser-Kathedrale geschrieben hast. In Haft. An wen richtet sich deine Botschaft?

Marija Aljochina: Ich wende mich an alle, die nicht schweigen wollen und können. Es ist ja kein Geheimnis, dass die politische Situation überall auf der Welt und nicht nur in Russland derzeit sehr angespannt ist. Zu schweigen ist das Schlimmste, was man in einer solchen Situation tun kann.

Im März werden Millionen russische Bürger Wladimir Putin erneut zu ihrem Präsidenten wählen. Gehst du wählen?

In Russland gibt es keine demokratischen Wahlen. Deswegen ist die Beteiligung an dieser Wahl kein ziviler Akt, genauso wie es kein ziviler Akt ist, nicht zur Wahl zu gehen. Ich denke, man kann sich eine kreativere Form des Protests ausdenken. Das, was auf den Straßen passiert, ist viel wichtiger als das, was in den Wahllokalen geschieht. Es sind nun Teenager, die auf die Straßen gehen, sehr junge Leute mit leuchtenden Augen. Ich habe unter denen bereits viele Freunde.

Was die Wahl der russischen Bürger betrifft: Wenn die Menschen, symbolisch gesprochen, zwischen Putin und Putin wählen können, dann ist es nicht erstaunlich, dass viele Putin wählen.

Russland - Pussy-Riot-Aktivistin bei Protest in Moskau festgenommen
Marija Aljochina nach der Festnahme in Moskau, Dezember 2017Bild: picture-alliance/dpa/Sputnik/E. Odinokov

In letzter Zeit endete jede deiner Aktionen auf dem Polizeirevier – zum Beispiel gerade erst im Dezember, als du dem KGB zum hundertjährigen Bestehen mit dem Plakat "Alles Gute zum Geburtstag, Henker!" gratuliert hast. Nach der schrecklichen Hafterfahrung, die du so einprägsam und plastisch in deinem Buch beschreibst: Hast du keine Angst?

Angst ist das Gefährlichste, was uns heute widerfahren kann. Das Fehlen von Angst ist eine Form der Selbstverteidigung. Nein, ich habe keine Angst – man kann sagen, ich habe "Angst vor der Angst". Man kann viel verändern, wenn man keine Angst hat. Zum Beispiel wollte ich im Gefängnis nicht hinnehmen, dass man uns ohne warme Kleidung bei minus 35 Grad hinaustreibt. Zusammen mit meinem Anwalt habe ich die Lagerleitung verklagt. Und wir haben den Prozess gewonnen. Daraufhin wurden acht Mitarbeiter der Strafkolonie entlassen und der oberste Leiter zu fünf Jahren verurteilt.

Pussy Riot bezeichnet sich als "feministisches Punk-Kollektiv". Was bedeutet für dich persönlich Feminismus?

Das Thema Feminismus kam für mich auf, als ich mit 18 Jahren beschloss, mein Kind zu behalten und als mein Sohn Philipp geboren wurde. Sie können sich nicht vorstellen, durch welche Hölle eine junge Frau in meiner Lage geht, wie viel Erniedrigung man hinnehmen muss.

Generell ist Feminismus für mich auch der Kampf für die Rechte des Mannes. Frauen werden bei uns nicht in die Armee aufgenommen, Frauen haben viel seltener leitende Positionen. Wenn man einen Teil der Männer von diesen Verpflichtungen befreien und diese den Frauen übertragen würde, dann wäre das für alle zumindest interessanter.

"Pussy Riot Theatre" in Frankfurt
Das "Pussy Riot Theatre" geht auf Deutschland-TourneeBild: picture-alliance/dpa/B.Roessler

Gibt es eine spezielle Form des "russischen Feminismus"?

In Russland herrschen im Grunde verbrecherische Verhältnisse. Und jedes verbrecherische System ist seinem Wesen nach rein männlich, den Frauen wird darin eine klare Rolle zugeteilt – die des Dienstpersonals. Deswegen hat der Feminismus in Russland eine so stark politische Botschaft. Ganz zu schweigen davon, dass in der russischen Medienlandschaft Figuren wie der Oberpriester Dmitri Smirnow gedeihen, der die Menschen auffordert, nach dem "Domostroi" zu leben. Dieser Kodex aus dem 15. Jahrhundert fordert zum Beispiel dazu auf, Frauen zu erzieherischen Zwecken zu schlagen. Nicht schlecht im 21. Jahrhundert, oder?

Ein Drittel der Frauen in der Strafkolonie, auf die ich traf, saß für eine Straftat im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt hinter Gittern. Das heißt, grob gesagt: Die Frau lebte mit ihrem Mann zusammen und er schlug sie und schlug sie und schlug sie. An einem bestimmten Punkt sagte sie dann "Jetzt reicht's" - und erstach ihn.

Die offizielle russisch-orthodoxe Kirche stilisiert Putin als Messias, als eine Art Gottvater. Siehst du eine Möglichkeit, dieser politisierten Theologie Widerstand zu leisten?

Die offizielle russisch-orthodoxe Kirche ist heute eine staatliche Machtstruktur. Übrigens ist das keine Erfindung von Putin, das begann bereits mit Stalin, der im Zweiten Weltkrieg auf die Kirche als Instrument des staatlichen Machtgebots setzte. Ich persönlich halte mich für eine Christin, aber das Christentum ist für mich vor allem die Philosophie der Freiheit und der persönlichen Wahl.

Während eures "Punk-Gebets" in der Christus-Erlöser-Kathedrale habt ihr die Gottesmutter aufgefordert, "Feministin zu werden". Ist die heilige Jungfrau aus eurer Sicht nicht genügend emanzipiert?

Ach nein, mit der heiligen Jungfrau ist alles in Ordnung. Wir sollten uns selbst einer genauen Betrachtung unterziehen.

Pussy Riot Kirche Flashmob Punk Russland Moskau
Gegen die Verlogenheit: Für ihren antiklerikalen Flashmob wurden Pussy Riot drakonisch bestraft (Aljochina im Bild rechts)Bild: picture-alliance/dpa

Das vergangene Jahr stand unter dem Zeichen weiblichen Protests – angefangen mit den Frauenmärschen im Januar bis zur massenhaften Enthüllung von sexuellen Übergriffen und Aktionen wie "MeToo". In Russland sehen einige darin geradezu eine neue Form der Inquisition, die sich in diesem Fall gegen die Männer richtet...

Ich halte diesen Vorgang für eine politische Aktion des weltweiten Feminismus. Es ist die natürliche Antwort auf den starken neokonservativen Trend der "men's world". Aber ich denke, man sollte die Kirche im Dorf lassen: Die Weltordnung wird sich nicht ändern, nur weil Harvey Weinstein und ein paar von seiner Sorte für ihr Verhalten gradestehen müssen.

In der letzten Zeit sorgte dein Privatleben für Aufsehen: Dein Lebensgefährte Dmitri Zorionow, bekannt unter dem Kampfnamen "Enteo", ist ein ultraorthodoxer Aktivist, Gegner von Schwulen und Abtreibungen, der Kunstausstellung demoliert und Strafen für Pussy Riot fordert. Aus seiner Bewegung "Gottes Wille" ist er wegen der Beziehung zu dir ausgeschlossen worden. Trotzdem sehen viele in eurem Verhältnis einen Verrat. Andere halten sie für einen schlauen PR-Trick, Dritte sind gerührt, weil "Löwe und Lamm friedlich beieinander wohnen können". Was hat es damit auf sich?

Ich sag es mal so: Dass wir uns getroffen haben und beharrlich eine gemeinsame Sprache suchen, ist viel cooler, als wenn wir es nicht täten.

Dein Sohn ist zehn Jahre alt. Wie erklärst du ihm, was du machst?

Ihm muss man nichts erklären, er lebt dasselbe Leben wie ich und weiß alles. Zum Beispiel hat er die Bilder zu meinem Buch "Riot Days" gezeichnet. Er ist ein wirklicher Held.

Das Gespräch führte Anastassia Boutsko.