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Zwangserkrankungen und SARS-CoV-2

Gudrun Heise
5. August 2020

Wir alle waschen uns mittlerweile jeden Tag zigmal die Hände, achten auf Hygiene und Abstand. Für Menschen mit einer Zwangserkrankung ist das nicht neu. Es gehört schon lange zu ihrem Alltag.

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Hände waschen
Bild: picture alliance/dpa/C. Klose

Waschzwang ist die häufigste Zwangserkrankung. Diejenigen, die darunter leiden, waschen sich überdurchschnittlich oft die Hände, einige bis zu 60 Mal am Tag, manche sogar noch öfter. Ihre Wohnung ist pedantisch sauber, in sehr ausgeprägten Fällen wechseln sie mehrfach täglich ihre Kleidung. So versuchen sie, sich vor vermeintlichen Gefahren etwa durch Bakterien, Viren oder Schmutz zu schützen.

Bevor sie eine Türklinke anfassen, desinfizieren sie diese und halten am liebsten einen gebührenden Abstand zu ihren Mitmenschen. Vor Corona wurden solche Verhaltensweisen von ihren Mitmenschen oft als merkwürdig, als abnormal oder sogar als verrückt betrachtet. Das hat sich jetzt geändert.

Infografik Händewaschen DE
Händewaschen ist zurzeit oberstes Gebot

Aus unnormal wird normal

Zurzeit sind wir alle aufgerufen, uns möglichst oft die Hände zu waschen – wenn wir fremde Gegenstände angefasst haben, mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren sind oder einen Einkaufswagen geschoben haben. Was vor Corona als ungewöhnlich galt, ist heute schon fast Normalität. Das irritiere einige der Menschen, die unter einer Zwangserkrankung leiden, sagt Antonia Peters von der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen.

"Es ist für diese Personen unverständlich, dass plötzlich fast alle mit Handschuhen und mit Maske umherlaufen. Da kommen bei einigen solche Gedanken auf wie: ‘Das ist doch sonst immer mein Alleinstellungsmerkmal. Jetzt machen das alle‘."

Alles auf Anfang

Etliche Menschen mit Waschzwang, so Peters, berichteten, dass ihr Zwang durch Corona stärker geworden sei. "Sie waschen sich noch häufiger und trauen sich kaum noch raus. Es kommt auch vor, dass Personen, die etwa unter einem Ordnungs- oder Kontrollzwang leiden, dann auch einen Waschzwang entwickeln."

Die Behandlung von Zwangsstörungen ist auf jeden Fall langwierig. Dann kam Corona. "Hatten die Patienten in der Therapie schon recht erfolgreich an sich gearbeitet, haben sie jetzt das Gefühl, wieder von vorne anfangen zu müssen und dass alles, was sie in ihrer Therapie gelernt haben, für die Katz ist", sagt Peters. Es ist sehr mühsam für die Patienten ihr Verhaltensmuster immer wieder anzupassen.

Deutschland Coronavirus - Berlin | Schlange stehen
Vielerorts herrscht MaskenpflichtBild: picture-alliance/dpa/W. Steinberg

Paradox

Für Menschen, die jahrelang unter Waschzwang gelitten haben und noch immer darunter leiden, ist Corona nicht nur gefährlich, sondern auch paradox. So sieht es ein junger Mann, der in der Mitgliederzeitung der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen schreibt: "Endlich, sagte ich mir, endlich ist die Gesellschaft bei mir angekommen, endlich bin ich normal, und endlich haben das die anderen auch eingesehen und passen sich mir an. Meine Techniken von früher werden geradezu kopiert, wo sind meine Patenteinnahmen?"

Türklinken aus Kupfer
Kupfer kann gefährliche Erreger wie MRSA und MSSA zerstören Bild: Asklepios Kliniken GmbH

Studie zu Corona

Welchen Einfluss Corona und die damit verbundenen, neuen Ängste und Einschränkungen auf Patienten mit Zwangserkrankungen haben, hat Lena Jelinek vom Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE) in einer Studie untersucht. "Wir haben eine Online-Befragung durchgeführt, bei der wir die Antworten von fast 400 Personen ausgewertet haben. Wir wollten wissen wie es den Menschen mit Zwangsstörungen in der Corona-Pandemie geht und ob sich ihre Situation verschlechtert oder verbessert hat."

Veröffentlicht ist die Studie noch nicht. Die Wissenschaftler, die daran beteiligt waren, hat unter anderem interessiert, ob es Unterschiede zwischen Personen mit Waschzwang und Personen mit anderen Zwängen gibt. Dazu gehören beispielsweise der Ordnungszwang oder der Kontrollzwang. "Über zwei Drittel der Befragten haben gesagt, dass sie eine Verschlechterung ihrer Zwangssymptomatik bemerkt haben", erläutert Jelinek. "Bei den Personen mit Waschzwängen war die Verschlechterung noch gravierender."

Symbolbild Gruppentherapie
Erfolge bei der Therapie werden durch Corona oft zunichte gemachtBild: Colourbox

Das Händewaschen wird zum Ritual, und häufig verringert es für kurze Zeit Ängste und Befürchtungen. Dann aber geht alles von vorne los. In einer ersten Auswertung der Hamburger Studie haben die Wissenschaftler festgestellt, dass die Zwangssymptome nur bei weniger als sieben Prozent der Teilnehmer abgenommen haben.

Die Befürchtung ist unter anderem, dass unter Corona viele Menschen überhaupt erst einen Zwang entwickeln, beispielsweise einenWaschzwang.

Gar nicht so selten

Insgesamt leiden etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland an einer der vielen verschiedenen Zwangsstörungen, und die Dunkelziffer ist hoch. Es gibt Menschen, die einen Zählzwang haben und beim Treppensteigen jedes Mal die Stufen zählen – diejenigen, die mit einem Ordnungszwang zu kämpfen haben oder diejenigen, die alles horten, nichts wegwerfen können.

Ob es sich dabei um eine Marotte handelt oder schon um krankhaftes Verhalten hänge eher von der Quantität ab, nicht von der Qualität, sagt Jelinek. "Ausschlaggebend ist unter anderem, wie viel Zeit am Tag ich mit Zwängen verbringe, aber auch ob ich Angst oder Unwohlsein empfinde, wenn ich eine Handlung nicht oder anders als sonst durchführe." 

Klebezettel: Herd aus?
Menschen mit Kontrollzwang überprüfen immer wieder, ob beispielsweise der Herd ausgeschaltet istBild: picture-alliance/ZB/J. Kalaene

Ausgeschaltet und abgeschlossen?

Zwangserkrankungen unterliegen einem Tabu. Viele, die davon betroffen sind, schämen sich für ihre Erkrankung und verheimlichen sie. Dabei ist es gleichgültig, um welche Art von Zwangshandlungen es geht. Beim Kontrollzwang etwa versichern sich die Personen immer und immer wieder, dass der Herd nun wirklich auch ausgeschaltet oder die Haustür abgeschlossen ist.

"Es besteht keine reelle Gefahr", erklärt Jelinek. "Rein rational wissen die Leute, dass sie den Herd ausgemacht haben, aber sie trauen oft ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr. Da kann es auch schon mal einen Patienten geben, der mit seinem Toaster im Rucksack kommt und sagt: Ich war mir nicht sicher, ob der nun wirklich ausgeschaltet ist oder nicht."

Immer ein bisschen mehr

Zwangserkrankungen entwickeln sich schleichend, und viele Faktoren kommen zusammen. Dazu gehört unter anderem eine familiäre Veranlagung. Etwa ein Viertel aller Zwangserkrankungen entstehen in der Kindheit. Einschneidende Erlebnisse, eine ungewöhnliche Situation oder eine schwierige Lebensphase können ein erster Auslöser für eine Zwangserkrankung sein. "Vielleicht haben sich die Eltern getrennt oder ein Angehöriger, ein naher Verwandter oder enger Freund ist gestorben. Auch die Erziehung kann Einfluss darauf haben, ob sich eine Zwangsstörung entwickelt", erklärt Peters. 

Junger Mann steht bei trübem Wetter an der Ostsee
Zwangsstörungen führen oft zu EinsamkeitBild: picture-alliance

Das Gefühl des Alleinseins

Einige Personen, die an der Studie teilgenommen haben, waren der Meinung, eigentlich gehe es ihnen zurzeit besser, auch wenn bei dem überwiegenden Teil die Zwänge zugenommen haben. "Ich habe das Gefühl, endlich verstanden zu werden. Endlich werde ich ernster genommen. Viele Menschen, die ich kenne, haben plötzlich Ängste. Deshalb fühle ich mich nicht mehr so allein", zitiert Jelinek einige der Teilnehmer an der Studie.

"Sie beschreiben es als ‘Welcome to my world‘ – ‘Willkommen in meiner Welt‘ und sagen: 'So wie ihr vieles jetzt erlebt, so sieht mein Leben schon seit vielen, vielen Jahren aus'."