Psychologe: "Das Leben ist kein Spaßbad"
17. Juni 2017Deutsche Welle: In Ihrem Buch "Die Verwöhnungsfalle" haben sie schon zur Jahrtausendwende die deutsche Jugend als zunehmend unmündig, wenig belastbar und verwöhnt beschrieben. Was hat sich seitdem verändert?
Albert Wunsch: Seit 20 Jahren sehen wir, dass Kinder immer weniger in die Ernsthaftigkeit des Lebens hineingeführt werden, man hält praktisch so eine Art Schonwiese für Kinder und Jugendliche bereit - mit der Problematik, dass anschließend, wenn das reale Leben einsetzt, sie sich darin nicht zurechtfinden.
Diesen Aspekt habe ich in meinem neuen - mit einer Co-Autorin verfassten - Buch "Wo bitte geht's nach Stanford?" mit aufgegriffen, weil die Voraussetzung, erfolgreich zu studieren, auch beeinträchtigt wird.
Was machen die Eltern falsch?
Die Eltern sind konfliktscheu, sie scheinen die Aufgabe ausgeklammert zu haben, sich als Reibfläche mit ihren Kindern zu bewegen und die Kinder ernst zu nehmen, sie in das Leben zu führen. Sie wollen Konflikte vermeiden, indem sie keine Positionen beziehen - vor lauter Sorge, sie könnten autoritär wirken. Viele Menschen haben Sorgen, eine Autorität zu sein - was wir alle als Erwachsene sein sollten! Das wird schnell mit autoritär verwechselt. Und autoritär wird dann gleichgesetzt mit Nazi-Denken und Gewalt-Pädagogik.
Die Eltern orientieren sich heute intensiver an den Kindern als die Kinder an den Eltern, wollen Freunde und Kumpel ihrer Töchter und Söhne sein. Damit wird der Erziehungsauftrag konterkariert.
Was können denn viele junge Menschen heute nicht, was eigentlich selbstverständlich sein sollte?
Sie haben sehr stark das Durchhalten verlernt, wollen möglichst viel Spaß. Sie geben schnell auf, wenn sie nicht sofort Erfolg spüren: ob bei Mathematik, Sprachen, Musik, Naturwissenschaften oder im Sport. Die Kinder werden immer mehr "gepampert", man macht ihnen ständig den Weg sehr leicht.
Aber das Leben ist kein Spaßbad. In dem Augenblick, wo bestimmte Herausforderungen zu meistern sind, fehlt ihnen die Kraft. Meine Beobachtung: Langjährige Unterforderung führt später zu objektiv-subjektiver Überforderung.
Wollen und Üben sind die Schlüsselqualifikationen für Lernen. Das "Ich-bin-geschafft-aber-glücklich-Gefühl", wenn ein herausforderndes Ziel erreicht wurde, wird den Kindern vorenthalten.
Wenn die jungen Leute dann das sichere Elternhaus verlassen, fängt die Überforderung erst recht an?
Viele wohnen noch zu Hause, aber wenn sie ausziehen, dann setzt häufig nicht das Kämpfen ein, sondern das Resignieren. Von meinen Studenten weiß ich, es gibt drei Hauptprobleme für den, der von zu Hause auszieht: der Kühlschrank wird nicht von allein voll, der Mülleimer wird nicht von allein leer und die Wäsche nicht von allein sauber. Sie haben auch kein Preisempfinden.
Aufgrund dieser begrenzten Fähigkeit zum Alltagsleben sind Depressionen und Studienabbrüche häufig die Folgen. Untersuchungen belegen, dass in Deutschland 25 bis 33 Prozent der Studenten - je nach Fachbereichen differierend - ihr Studium abrechen.
Ist die ältere Generation der jüngeren gegenüber nicht immer kritisch?
Ja, das sollte sie eigentlich sein, denn das ist ein notwendiger Prozess. Wenn sich die ältere Generation wirklich in die Auseinandersetzung mit der jüngeren begibt, muss sich die ältere fragen lassen, ob sie ihre Position auch als erhaltenswert rüberbringen kann. Und die jüngere Generation müsste sich fragen: Können wir unsere Position den Älteren als wichtige und übernehmbare Veränderung verdeutlichen?
Wenn eine solche Auseinandersetzung als ernsthaftes Ringen um Wichtiges zu positiven Ergebnissen führt, dann hat eine Gesellschaft eine gute Überlebensfähigkeit.Dadurch, dass sich viele Jugendliche permanent zu stark an den Gleichaltrigen orientieren, findet diese Auseinandersetzung nicht mehr statt, dem gesellschaftlich notwendigen Wertetransfer fehlt so die Basis.
Erleben wir also eine ewige Adoleszenz?
Diese Tendenz ist stark zu beobachten. Die Devise lautet dann: "Für immer jung!" Damit ist indirekt verbunden, viele Alltagskompetenzen auszugrenzen und die volle Verantwortung für das eigene Leben nicht übernehmen zu wollen. Viele Jugendliche heutzutage sind auch entscheidungsunfreudig. Man wird eingeladen, sagt: "Ich schau mal", und meint neudeutsch: Warten, ob nicht was Besseres kommt. Sie wollen sich nicht festlegen: Denn wer sich nicht festlegt, hat ja (vermeintlich) alle Optionen offen.
Aber so funktioniert das Leben nicht. Wer sich dauernd neue Optionen offen hält, kann das, was grade ansteht, gar nicht richtig machen. Denn wirkliche Erfolge benötigen eine volle Konzentration auf das Ziel. Dabei haben diese jungen Menschen den Eindruck, autark und lebenstüchtig zu sein. Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung klaffen massiv auseinander.
Wie müssen Eltern ihr Verhalten bzw ihre Einstellung ändern?
Eltern sollten viel intensiver zur Kenntnis nehmen, dass man schnell ein Kind in die Welt setzen kann - aber dass heute, in einer pluralistischen Gesellschaft mit den vielen Außeneinwirkungen, eine Menge dazugehört, um als Eltern die Erziehung gut wahrnehmen zu können.
Und die Kinder müssen früher mit den Ernsthaftigkeiten des Lebens konfrontiert werden. Sie sollten erfahren, dass Geld vor dem Ausgeben erst verdient werden muss und sie daher nicht auf ihre eigenen Interessen fixiert einfach in den Tag hinein leben können. Denn nur, wenn sie erlernen, wie das Leben im Geben und Nehmen funktioniert, können sie ihre Ziele eigenständig und in Selbstverantwortung erreichen.
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und Erziehungswissenschaftler. Er lehrt an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen/Neuss, an der Universität Düsseldorf und arbeitet als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konfliktberater sowie als Supervisor und Coach. Zu seinen Veröffentlichungen zählen "Die Verwöhnungsfalle", "Abschied von der Spaßpädagogik" und "Wo bitte geht's nach Stanford? Wie Eltern die Leistungsbereitschaft ihrer Kindern fördern können" (mit Isabelle Liegl).
Das Gespräch führte Dagmar Breitenbach.