Psychisch Kranke im Kampf gegen Vorurteile
29. April 2018Arno Deister schüttelt noch immer den Kopf: "Das konnte nur Ausdruck von Vorurteilen und mangelnder Information sein." Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie spricht über einen Gesetzentwurf, der kontrovers diskutiert wurde. Darin ging es um die Versorgung von psychisch kranken Menschen im Bundesland Bayern.
Eigentlich sollte eine "zentrale Unterbringungsdatei" entstehen, auf die auch die Polizei zugreifen könnte. Neben persönlichen Daten sollten auch Diagnosen und die Dauer der Unterbringung von Menschen in einer Psychiatrie für fünf Jahre gespeichert werden. Eine nachhaltige Verbesserung der Versorgung versprach sich davon die regierende CSU. Eine Einschränkung der Grundrechte befürchteten Kritiker.
Das Gesetz würde psychisch kranke Menschen mit Kriminellen und Gewalttätern gleichstellen, hieß es von Opposition und Ärzten. Jetzt zeigte die massive Kritik Wirkung: Am Dienstag erklärte die bayrische Sozialministerin Kerstin Schreyer, dass auf die Unterbringungsdatei vollständig verzichtet werde. Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), nimmt die Entwicklungmit Wohlwollen zur Kenntnis: "Denn wenn man psychische Erkrankungen mit Gewalt verbindet, dann stigmatisiert man die Betroffenen massiv".
Wie ein Brandmal
Stigmatisierung – ein Verhalten, das unseren Umgang mit psychischen Erkrankungen immer noch bestimmt. "Stigmatisierung bedeutet, dass man einen Menschen oder eine Menschengruppe mit einem negativen Merkmal versieht", erklärt Deister. Ein Stigma sei wie ein Brandmal. Menschen entwickeln eine kritische Einstellung gegenüber Betroffenen. "Das Entscheidende ist aber, dass Stigmatisierung direkt zu Diskriminierung führen kann."
Eine Depression ist etwas anderes als ein Beinbruch. Viele Menschen haben Schwierigkeiten, psychische Störungen zu erkennen und offen damit umzugehen – und das nicht nur als Betroffener. "Menschen haben oft Angst davor, weil es schwer zu verstehen, nicht zu begreifen und einfach nicht fassbar ist", so Deister. Diese Angst führe in vielen Fällen dazu, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Betroffene, die schon mit sich selbst kämpfen, müssen dann noch den Druck von außen verkraften. Ein Druck, dem viele nicht standhalten.
Die Deutungsmacht der Medien
Häufige Erkrankungen wie etwa Depressionen werden von der Gesellschaft immer besser akzeptiert. Seltene psychische Störungen, wie Angstzustände oder Psychosen, rufen immer noch Vorurteile hervor, die sich in unserer Sprache zeigen. Menschen werden dann als "verrückt" bezeichnet. Statt in einer psychiatrischen Klinik kommen Betroffene landläufig in eine "Anstalt". Und ihre Therapie wird oft nicht als Weg aus der Krankheit gesehen, sondern als Einbahnstraße in ein Leben fernab der Öffentlichkeit. Bilder und Begriffe, die auch die Medien prägen.
Vinzenz Wyss ist Professor für Journalismus an der University of Applied Sciences in Zürich. Für den Journalisten haben Medien eine entscheidende Deutungsmacht über psychisch Kranke: "Menschen ohne Betroffene im Bekanntenkreis nehmen das Thema fast ausschließlich über die Medien wahr." Journalisten komme eine besondere Rolle zu, wenn es um die Darstellung psychischer Erkrankungen gehe. Und sie haben eine besondere Verantwortung: "Ihre Deutungsmacht ist gefährlich. Jede Verzerrung der Realität, insbesondere wenn Medien psychisch Kranke regelmäßig mit Kriminalität in Zusammenhang bringen, führt zu einer noch stärkeren Stigmatisierung", führt Wyss an.
Bewusst zurücknehmen und nachdenken
Die Logik des Journalismus bestehe darin, das Außergewöhnliche zu thematisieren. Das Abweichen von der Norm sei eher eine Meldung wert. Probleme entstehen dann, wenn psychische Erkrankungen als etwas Sonderbares oder bei Straftaten gar als etwas Skurriles gesehen werden - und nicht als etwas, das jedem passieren kann. Für Professor Wyss sind Wissenslücken der Anfang für eine stigmatisierende Berichterstattung: "Journalisten greifen in der Regel zunächst auf Alltagswissen zurück oder das, was sie selbst aus den Medien kennen", schildert Wyss seine Eindrücke. Journalisten bräuchten jedoch einen "reflexiven Widerstand". Sie müssten sich bewusst zurücknehmen und über die Folgen der Berichterstattung nachdenken.
Dafür bleibe aber oft keine Zeit und das äußere sich zunächst in der Sprache. "Vor allem Boulevardmagazine dämonisieren psychisch Kranke oft", meint Wyss. "Es werden Worte wie 'Monster', 'Klapsmühle' oder sonstige negative Superlative benutzt. Das ist verantwortungslos."
Betroffene sprechen lassen
Für den Journalismus-Professor liegt die Lösung für Gesellschaft und Medien in einem konstruktiven Ansatz. "Es muss mehr lösungsorientierte Geschichten geben. Medien sollten auch mal zeigen, dass den Menschen, die in psychischen Kliniken landen, dort auch geholfen wird." Arzt Arno Deister wünscht sich mehr persönliche Erzählungen: Nicht nur über Betroffene schreiben, sondern sie zu Wort kommen lassen.
Ein Konzept, das Anxy schon lebt. Das englischsprachige Magazin richtet sich direkt an Menschen mit psychischen Erkrankungen. Kern des Magazins sind persönliche Erfahrungen von Betroffenen. Zweimal im Jahr erscheint eine neue Ausgabe. In der Zwischenzeit können Leser persönliche Essays einschicken.
"Ich bin nicht allein"
Die Berlinerin Kati Krause arbeitet bei Anxy. Für sie füllt das Magazin eine wichtige Lücke in der Berichterstattung: "Der größte Teil der Geschichten ist noch sehr medizinisch und sehr von außen gesehen. Die Menschen, die Hilfe brauchen, können sich damit nicht identifizieren." Die Betroffenen wüssten einfach am besten, wie man ihre Geschichten erzählt: "Du kannst als gesunder Mensch nicht verstehen, wie sich zum Beispiel eine Depression anfühlt." Und darum könnten gesunde Journalisten auch nicht ordentlich darüber schreiben, meint Kati Krause.
Sie selbst hatte Depressionen und konnte mit der Berichterstattung nichts anfangen. Sie fühlte sich allein, als wäre sie die einzige Person auf der Welt, der es schlecht geht. Als sie ein Youtube-Video einer Frau sah, der es ähnlich ging, erlebte Krause einen Schlüsselmoment: "Ich wusste dann, dass ich nicht allein bin." Sie begann, ihre Erfahrungen und Recherchen aufzuschreiben und im Netz zu veröffentlichen. Zunächst ging es nur darum, die eigene Situation zu verarbeiten. Später merkte sie, dass sie auch vielen anderen damit helfen konnte.
"Anxy soll genau das machen: Menschen zeigen, dass sie nicht allein sind", fasst Krause zusammen. Gleichzeitig möchte das Team von Anxy niemanden heilen und niemanden reparieren: "Es geht nur darum, sich selbst und andere zu verstehen." Das gelingt durch sehr persönliche Texte und kunstvolle Bilder. Im Grunde: mit Kunst gegen die Stigmatisierung.
Den richtigen Umgang finden
Für Journalismus-Professor Vinzenz Wyss geht Anxy einen guten Weg. Bisher erreichen solche Magazine jedoch nur kleine Zielgruppen: "Es ist sehr wichtig, dass so etwas auch in den Massenmedien mit großer Reichweite stattfindet." Doch dafür sieht Wyss ein Ressourcenproblem: "Der Journalismus, so wie wir ihn kennen, ist eigentlich relativ kurzfristig angelegt." Man könne sich oft nicht leisten, mehrere Wochen an einer Geschichte zu arbeiten.
Die Zeit wäre allerdings gut investiert, denn die Aufmerksamkeit für psychische Erkrankungen hat in den letzten Jahren zugenommen. Arno Deister stellt aber auch klar: "Die Zahl der Erkrankungen nimmt nicht zu, wir gehen nur anders damit um." Doch solange die Gesellschaft psychische Erkrankungen nur über Stigmen und Vorurteilen wahrnimmt, hat sie den richtigen Umgang mit ihnen wohl noch nicht gefunden.