Coronavirus: "Einsamkeit ist ansteckend"
28. März 2020Deutsche Welle: Viele Länder verschärfen ihre Maßnahmen bis hin zu Ausgangssperren, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Wie beeinflusst die Selbstisolation oder das sogenannte Social Distancing unsere psychische Gesundheit?
Prof. Dr. Manfred Spitzer: Man muss die einzelnen Maßnahmen differenziert betrachten. Zunächst einmal wissen wir dass die Quarantäne - die ultimative Form des Eingesperrtseins - tatsächlich zu psychischen Störungen führen kann, auch bei ganz normalen Menschen.
Es gibt längerfristige Untersuchungen dazu, die gezeigt haben, dass nach einer Quarantäne die Häufigkeit von Störungen wie Angststörung, Schlafstörung oder sogar eine posttraumatische Belastungsstörung höher ist. Es gibt da keinen Unterschied zwischen älteren und jüngeren oder Männern und Frauen. Alle können darunter leiden. Weswegen die Empfehlung für solche Maßnahmen gilt, sie nur dann durchzuführen, wenn sie unbedingt notwendig sind.
Sie sprachen von Social Distancing. Es gab eine Reihe von wissenschaftlichen Studien dazu, wie in verschiedenen Gegenden der Welt, vor allem aber in China, der Ausbreitung des neuen Coronavirus begegnet wurde. Und da konnte man nachweisen, dass zum Beispiel so etwas wie Reisebeschränkungen nicht so viel bringt, aber die soziale Distanz tatsächlich die Ausbreitung des Virus deutlich beeinflussen kann.
Social Distancing sind eigentlich nicht ganz die richtigen Worte. Es sollte Physical Distancing heißen - also körperliche Distanz.
Wie lange können solche Maßnahmen gelten, damit sie keinen Schaden der Gesundheit verursachen?
Da muss jeder Einzelne für sich entscheiden, wie seine Situation ist. Das Wichtigste, was jeder Mensch hat, um mit dem Coronavirus fertig zu werden, ist sein eigenes Immunsystem. Wir wissen, was das Immunsystem stärkt, und dazu gehört eben auch rausgehen. Am besten natürlich dahin, wo sonst keiner ist. Also in den Wald zum Beispiel.
Man weiß, dass ein Waldspaziergang eine Stunde oder besser sogar zwei die Immunabwehr nachweislich verbessert. Im Haus zu bleiben schadet dem Immunsystem. Das ist ganz besonders wichtig für Familien mit Kindern.
Können die sozialen Medien Leuten in Isolation die sozialen Kontakte ersetzen?
Ich sehe die sozialen Medien eher kritisch. Aber sie sind in diesen Zeiten sicherlich auch ein Weg, Kontakt zu halten. Bitte nicht den ganzen Tag und auch nicht auf den ganzen Unfug hören, der in sozialen Medien verbreitet wird.
Das Telefon ist wahrscheinlich im Moment das beste soziale Medium, was man haben kann. Twitter und Facebook sind eher nicht so gut. Gerade die vielen Fremden, mit denen man dann zu tun hat, tun einem eher nicht gut.
Die medialen Sozialkontakte funktionierten umso besser, je besser man sich kennt. Mit Oma und Opa, mit Papa und Mama, mit der besten Freundin und dem besten Freund kann man auch sehr gut telefonieren. Je weniger man sich kennt, desto weniger gut ist der Ersatz des direkten Kontaktes durch zum Beispiel ein Telefonat.
In Ihrem Buch "Einsamkeit - die unerkannte Krankheit" schreiben Sie, dass die Einsamkeit auch ansteckend sein kann. Wie ist das möglich?
Einsamkeit ist ansteckend. Das wurde im Jahr 2009 zum ersten Mal herausgefunden von einer Arbeitsgruppe, die einen großen Datensatz analysiert hat. Und da kam heraus, dass Rauchen ansteckend ist oder dass Übergewicht ansteckend ist.
Der jüngste entsprechende Befund - wenn mein Freund einsam ist, dann habe ich eine größere Chance auch selbst einsam zu werden in den kommenden Jahren. Im Grunde ist der Befund schon länger im Bereich der Psychologie bekannt. Emotionen sind tatsächlich ansteckend, weil wir Menschen soziale Wesen sind. Deswegen stecken wir uns auch emotional an.
Menschen, die immungeschwächt sind, haben ein höheres Risiko, sich mit Erkältungsviren oder dem Coronavirus anzustecken. Genauso wie diejenigen, die sich vor einem Virus schützen müssen, müssen sich die für Depression und Traurigkeit Anfälligen, jetzt auch vermehrt schützen.
Viele junge Menschen engagieren sich für ältere Menschen und helfen zum Beispiel beim Einkaufen. Gleichzeitig beobachtet man, dass manche Leute Angst haben, anderen näher zu kommen oder Hilfe anzubieten. Wie kann man so etwas psychologisch erklären?
Menschen sind unterschiedlich im Hinblick auf ihr allgemeines Angstniveau. Es gibt immer Leute, die, wenn sie von einer Krankheit hören, sich sofort verbarrikadieren und vorher noch vielleicht Hamsterkäufe machen. Und es gibt andere, die sagen, dass es mich überhaupt nicht interessiert. Sie gehen raus und treffen sich mit ihren Freunden und so weiter. Es gibt Menschen, die das ganze kriminell ausschlachten und Gewinne machen. Aber die meisten Menschen, mindestens 70 Prozent, sind eigentlich von Natur aus eher positiv sozialen Kontakten gegenüber eingestellt.
Ich persönlich höre in den letzten Tagen immer mehr Positives. Man redet mal ein Wort mehr miteinander. Bei zwei Meter Abstand, aber man wünscht sich öfters: Bleiben Sie gesund. Noch vor vier Wochen hat man das nicht zueinander gesagt. Das ist doch eigentlich eine schöne Sache - man kümmert sich wieder mehr umeinander. Ich halte das nicht für eine Floskel. Die Leute meinen das ernst.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer hat seit 1997 den Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Ulm inne und leitet die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm. Er hat viele Bücher geschrieben, unter anderem "Einsamkeit - die unerkannte Krankheit: schmerzhaft, ansteckend, tödlich“. Das Gespräch führte Elena Gunkel.