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Extremismus und Wahnsinn

Das Interview führte Zulfikar Abbany/db23. Juli 2012

Vor einem Jahr tötete der norwegische Rechtsextremist und Islam-Hasser Anders Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen. Ist Fanatismus eine Form von Wahnsinn? Antworten vom Psychiater Tom Fahy.

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Anders Behring Breivik (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Anders Behring Breivik hat während seines Prozesses immer auf seine Zurechnungsfähigkeit gepocht. In Norwegen scheint man ihm recht zu geben. Als ein erstes psychiatrisches Gutachten behauptete, er sei geistesgestört, gab es einen Aufschrei in der Bevölkerung. Die meisten Norweger waren der Meinung, Breivik sei mental gesund genug, um eine normale Gefängnisstrafe abzusitzen anstatt in die Psychiatrie gesteckt zu werden. Letzteres wäre für ihn "schlimmer als der Tod", so Breivik. Aber auch Wochen nach Prozessbeginn gibt es noch keine Klarheit über den Geisteszustand des Massenmörders. Ein Urteil wird Ende August erwartet.

DW: Was lässt darauf schließen, dass Fanatismus eine Form von Wahnsinn ist?

Tom Fahy: Manche Leute haben so extreme Ansichten, dass es für den Normalbürger sehr schwierig ist nachzuvollziehen, wie sie zu dieser Meinung kommen. Ihre Ansichten und das damit einhergehende Verhalten können für Beobachter irrational erscheinen. Wenn jemand irrationale Ansichten zu haben scheint oder sich irrational verhält, ist es eine naheliegende Folgerung anzunehmen, der- oder diejenige könnte geisteskrank sein, unter Wahnvorstellungen leiden oder unter dem Einfluss irgendeiner geistigen Anomalie handeln.

Professor Tom Fahy (Foto: King's College London/Institute of Psychiatry)
Tom FahyBild: King's College London/Institute of Psychiatry

Aber man muss nicht wahnsinnig sein, um wahnsinnige Taten zu begehen, oder?

Um sehr schlimme oder sehr extreme Taten zu begehen, muss man nicht geistesgestört oder wahnsinnig sein. Wenn es um Geisteskrankheit geht, unterscheiden wir oft zwischen Wahnvorstellungen und extremen normalen Vorstellungen, je nachdem, ob diese Vorstellungen von der Gruppe Gleichgesinnter geteilt werden. Wenn die Vorstellungen der Person irrational erscheinen und in keiner Weise von der Gruppe mitgetragen werden - zum Beispiel einer religiöse oder politische Gruppe, mit der die Person zu tun hat - würden wir in diesen Fällen dazu neigen, diese Vorstellung eine Wahnvorstellung zu nennen.

Zurück zum Breivik-Fall: Die Staatsanwaltschaft glaubt, der Geisteszustand Breiviks sei noch nicht hinreichend festgestellt. Anders Breivik selbst hält sich für zurechnungsfähig. Aber warum spielt das in diesem Fall so eine große Rolle? Gibt es die Möglichkeit, die Frage nach dem Geisteszustand einer Person - eines Tatverdächtigen - zu umgehen?

Ich denke, die Frage kommt in einem Mordfall automatisch auf - geistesgestört oder nicht? Es gibt viele Gerichtsbarkeiten, in denen die meisten Mordverdächtigen vor Prozessbeginn psychiatrisch begutachtet werden. In Breiviks Fall ist das aus zwei Gründen sehr wichtig. Breivik will natürlich seine Zurechnungsfähigkeit etablieren. Er scheint ein höchst selbstverliebtes Individuum zu sein. Ich glaube, die Vorstellung, dass seine Taten irgendeiner psychischen Erkrankung entspringen, würde sein ganzes Selbstbild zerstören, seine ganze Identität und die Ratio seines Verhaltens hinterfragen. Es ist eindeutig, dass er sich für ein sehr cleveres und rationales Individuum hält. Wenn er des Mordes für schuldig befunden wird, droht ihm die Höchststrafe im Gefängnis. Wenn er als geisteskrank eingestuft wird, ist die Zeitspanne, die eine Person in der Psychiatrie verbringt, unbefristet; es ist möglich, eine Person auf unbestimmte Zeit festzuhalten, so lange die Person als Gefahr für die Gesellschaft angesehen wird.

Er hat gesagt, ein Aufenthalt in der Psychiatrie wäre für ihn "schlimmer als der Tod". Wie wird das Urteil wohl ausfallen, und wie sollte es Ihrer Meinung nach ausfallen?

Meiner Meinung nach hat dieser Mann seinen mörderischen Amoklauf sehr genau geplant - er hat ihn sogar jahrelang geplant. Das hat das Beweismaterial ja gezeigt. Er hat umsichtige Vorkehrungen getroffen, um nicht bemerkt und während seines Amoklaufs gestört zu werden. Er wusste offensichtlich, dass das was er tat nicht rechtens war. Ich denke, unter solchen Umständen wäre es falsch, ihn aus dem Verkehr zu ziehen, indem man ihn in die Psychiatrie steckt, anstatt ihn dem Strafjustizsystem auszusetzen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Gesundheitsdienste genug anbieten können in Bezug auf die Behandlung. Es ist nicht Sache der Psychiatrie, Menschen mit extremen rassistischen oder fremdenfeindlichen Ideen zu behandeln. Wir behandeln solche Leute nicht, es gibt keinen Beleg dafür, dass wir ihre Ansichten ändern können. Will man Risiken für die Zukunft eindämmen, so würde, denke ich, die Psychiatrie nur eine marginale Rolle spielen.

Am 19. Juli trafen Mitglieder des King's College London - Institute of Psychiatry (IoP) zum sogenannten "Maudsley Debate"- Gespräch zusammen. Es ging um die Frage, ob Fälle wie der von Breivik beweisen, dass Fanatismus eine Form von Wahnsinn ist. DW sprach mit Tom Fahy, Professor für Forensische Psychiatrie. Er war außerdem der Vorsitzende der "Maudsley Debate"-Gesprächsrunde.