Prozess um Völkermord in Ruanda
13. November 2023Der 6. April 1994 ist ein trauriger Wendepunkt für das zentralafrikanische Land Ruanda. An jenem Abend wird die Maschine des damaligen Präsidenten Juvénal Habyarima, auf dem Weg zurück aus dem Nachbarstaat Tansania, beim Landeanflug auf den Flughafen der Hauptstadt Kigali von Boden-Luft-Raketen abgeschossen. Alle Insassen, zu denen auch der burundische Präsident Cyprien Ntaryamira gehört, kommen ums Leben. Wer dahinter steckt, ist bis heute nicht geklärt. Doch der Vorfall gilt als Auslöser eines drei Monate langen Völkermords, bei dem unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 500.000 und einer Million Menschen getötet werden. Denn Habyarima gehört zu der Mehrheit der Hutus. Diese Volksgruppe beschuldigt die Minderheit der Tutsis, das Attentat begangen zu haben. Und beginnt kurz danach, massenhaft Tutsis und gemäßigte Hutus - die der gemeinsamen Sache mit den Tutsis beschuldigt werden - zu ermorden.
Ab Dienstag steht in Paris ein Gynäkologe vor einem Geschworenen-Gericht, der in der süd-ruandischen Präfektur Butare, heute Huye genannt, Massenermordungen ermöglicht haben soll. Es ist bereits das siebte Verfahren zum ruandischen Genozid in Frankreich. Zivilkläger sprechen von einem Fall mit Symbolwirkung.
In Butare setzten die Tötungen etwa zwei Wochen nach dem Attentat auf den Präsidenten ein. In der Folge wurden dort Schätzungen zufolge mehr als 200.000 Menschen umgebracht. Der heute 68-jährige Sosthène Munyemana, ein Hutu, wohnte zu der Zeit in Butare. Er praktizierte als Gynäkologe im Universitätskrankenhaus. Mitte Juni floh er nach eigenen Angaben zunächst in die Demokratische Republik Kongo, dann nach Frankreich, wo die Familie mit drei Kindern seitdem lebt. Seit 2001 arbeitet Munyemana als Gynäkologe in der Universitätsklinik Saint-Cyr im südwestlichen Villeneuve-sur-Lot.
Mittäter oder Unwissender?
Der Arzt ist nun der Beihilfe zum Völkermord und zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Teilnahme an der Vorbereitung dazu und beider Straftaten selbst beschuldigt. Er soll gemeinsam mit anderen lokalen Persönlichkeiten einen offenen Brief zur Unterstützung der Interimsregierung unterzeichnet haben. Letztere hatte den Völkermord systematisch durchführen lassen. Der Angeklagte soll in ein Krisenkomitee gewählt worden sein, das Absperrungen errichtet habe, um die Tutsis aufzuspüren. Außerdem soll er Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen im lokalen Regierungsbüro eingesperrt haben, zu dem er die Schlüssel hatte. Er soll dabei geholfen haben, sie abzutransportieren.
Doch Munyemanas Anwalt Jean-Yves Dupeux weist diese Anschuldigungen zurück. Der offene Brief, sagt er, sei auf den 16. April datiert, einen Zeitpunkt, an dem noch keine Massaker in Butare stattgefunden hätten. "Mein Mandant dachte, die Interimsregierung könne ein Bollwerk gegen den sich abzeichnenden Bürgerkrieg darstellen", sagt er gegenüber der DW. Außerdem habe Munyemana zwar an besagter Versammlung am 17. April 1994 teilgenommen, sei dabei jedoch in kein Amt gewählt worden. Zudem habe "die Kommission zum Ziel gehabt, Massaker zu verhindern."
Auch der letzte Anklagepunkt sei ein Missverständnis. "Er hat am 23. April die Schlüssel eines Regierungslokals bekommen, um dort vier Gruppen an Menschen zu verstecken, damit sie nicht getötet werden. Der Bürgermeister hat dann einen Kleinlaster geschickt, um sie abzuholen. Sosthène Munyemana hielt die Tür des Lasters auf. Die meisten von ihnen hat man später hingerichtet, aber davon wusste mein Mandant nichts", so Dupeux. Munyemana wird deshalb von der Anklage vorgeworfen, aktiv beim Abtransport von Opfern mitgeholfen zu haben - er selbst sagt, mit dem Aufhalten der Tür allein dies nicht bewusst getan zu haben.
Im Übrigen übe die aktuelle ruandische Regierung Druck auf Zeugen aus, damit sie gegen Munyemana aussagten, weil er ein potenzieller Anführer der Opposition werden könne. "Die NGO Human Rights Watch, die sich weltweit für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzt, hat in ihrem jüngsten Bericht gesagt, die aktuelle Regierung tue alles, um potentielle Oppositionelle im Ausland kaltzustellen - im wörtlichen und übertragenen Sinne", sagt der Anwalt.
Zweifel an politischem Druck aus Ruanda
Doch dieses Argument hat Aurélia Devos schon zu oft gehört. Die Richterin war zehn Jahre lang Vorsitzende der 2012 gegründeten Abteilung für "Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen" der Pariser Staatsanwaltschaft. "Alle Angeklagten vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Tansania (ICTR), den man 2015 geschlossen hat, haben dieses Argument vorgebracht. So ist das häufig, wenn angebliche Täter sich legitim fühlen, weil sie ein Regime verteidigt haben. Sie sagen, dass auf die Zeugen Druck ausgeübt wird. Aber dem kann man nicht einfach Glauben schenken", sagt sie gegenüber der DW.
Auch Alain Gauthier bezweifelt das Argument des politischen Drucks. Er ist Mitbegründer des Vereins der Zivilkläger für Ruanda (CPCR), welcher beim Prozess 25 Zivilkläger vertritt. "Ich bin oft in Ruanda und habe nie mitbekommen, dass man Zeugen der Verteidigung unter Druck gesetzt hat", sagt er gegenüber der DW. Gauthier hat schon vielen Verhandlungen beigewohnt. Aber diese hier hat für ihn Symbolwirkung. "Diesmal steht ein Doktor vor Gericht, der ja eigentlich Menschen versorgen soll. Man wirft ihm vor, es ermöglicht zu haben, dass viele Menschen getötet wurden. Bisher hat man hier über Soldaten, Bürgermeister, Milizen etc. gerichtet, aber nie über Ärzte", so Gauthier.
Prozess mit Signalwirkung
Die französische Rechtsprechung habe dabei eine gewisse Sonderstellung, meint Dr. Nicola Palmer, Privatdozentin für Jura am Londoner King's College, die sich seit 2006 mit dem ruandischen Völkermord beschäftigt. "Laut meinen Recherchen gibt es 120 Verfahren, die außerhalb von Ruanda gerade in 20 verschiedenen Ländern laufen. Der Großteil von ihnen - 32 - ist in Frankreich anhängig", sagt sie zur DW. "Für mich ist dies die letzte, transnationale Etappe der Rechtssprechung nach dem Genozid. Erst gab es Urteile vor dem ICTR, dann in Ruanda, und nun diese abschließende Welle mit Angeklagten, die aus dem Land geflohen sind."
Richterin Devos fügt dem hinzu, dass Frankreich eine moralische Verantwortung habe, über solche Fälle zu richten - selbst wenn dies manchmal wegen der Komplexität und des Personalmangels wie im vorliegenden Fall Jahrzehnte dauere. Eine erste Klage gegen Munyemana hatten Zivilkläger in Frankreich schon 1995 eingereicht. "Wir können - gemäß einem französischen Rückwirkungsverbot – keinen des Genozids Beschuldigten nach Ruanda ausweisen, weil es zu der Zeit noch kein Gesetz zu Völkermord dort gab. Deswegen müssen wir solche Fälle hier vor Gericht bringen", sagt Devos. Auch einen Antrag auf Ausweisung Munyemanas hatte Frankreich 2010 abgewiesen – ruandische Dorf-Gerichte hatten ihn zuvor in Abwesenheit zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt.
Gerichtsverfahren außerhalb Ruandas hätten dabei noch eine weitere Funktion, betont Roger Koudé, Professor für internationales Recht in Lyon und Chef des Unesco-Forschungslabors "Erinnerung, Kultur und Interkulturalität". "In unserem Labor wirken wir daraufhin, dass der ruandische Genozid nicht in Vergessenheit gerät, weil es ein reelles Risiko für erneute Völkermorde gibt – in Afrika, im Mittleren Osten und Asien", sagt er zu DW. Gerichtsverhandlungen wie die in Paris könnten von erneuten Völkermorden abschrecken. "Weil Genozid in die Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit fällt, geht das die gesamte Menschheit etwas an. Die internationale Gemeinschaft hat deshalb entschieden, dass man solche Verbrechen nicht ungeahndet lassen kann. Die Täter dürfen sich nirgendwo sicher fühlen", erklärt er.
Das Urteil wird voraussichtlich am 19. Dezember bekanntgegeben.