Russische Militärs in Kiew vor Gericht
9. November 2015Der Mann hinter einer Glaswand ist glatt rasiert, trägt einen Nadelstreifenanzug. Er wirkt gut gelaunt und selbstbewusst. Als eine Reporterin fragt, was er in der Ostukraine gemacht habe, lächelt er: "Bin da rumgelaufen".
Geständnis relativiert
Die Szene spielt sich Anfang November im Holosijiwski Amtsgericht in Kiew ab. Viele Ukrainer haben diesen Mann anders in Erinnerung: mit Vollbart, auf einem Krankenhausbett, der rechte Arm verwundet, schwach und deprimiert. Sein Name ist Jewgeni Jerofejew. Vor rund einem halben Jahr wurde der 30-jährige Russe bei Gefechten mit prorussischen Separatisten in der Ostukraine von ukrainischen Militärs gefangen genommen. Er sei Kapitän einer Spezialkräfteeinheit aus der südrussischen Stadt Togliatti, gab Jerofejew beim Verhör zu. Heute sagt er, er habe seine Aussagen "unter Druck" gemacht. Am Dienstag beginnt in Kiew der Prozess gegen Jerofejew und den 28-jährigen Unteroffizier Alexander Alexandrow, der damals auch gefangen genommen wurde. Auch Alexandrow sagt, er habe sein Geständnis unter Druck gemacht.
Für Viktor Nikoljuk müsste das überraschend klingen. Der ukrainische Oberst hat die beiden Russen am 16. Mai beim Städtchen Schastja an der Trennlinie zum Separatistengebiet Luhansk persönlich gefangen genommen. Bei einer Routinekontrolle habe es ein Gefecht gegeben, erzählte Nikoljuk der DW. Ein ukrainischer Soldat sei dabei getötet worden. Im Gebüsch habe er die beiden verwundeten russischen Militärs gefunden. "Wir sind Russen, 3. Brigade der Spezialkräfte, holt uns raus", soll ihm Alexandrow gesagt haben.
Antrag auf Kriegsgefangenstatus
Jerofejew und Alexandrow wurden nach Kiew gebracht und operiert. Nun sitzen sie auf der Anklagebank. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen unter anderem Beteiligung an einem "aggressiven Krieg gegen die Ukraine" und Terrorismus vor. Den beiden droht langjährige oder lebenslängliche Haft.
Wenige Tage vor Prozessbeginn reichten sie Anträge ein, um einen Kriegsgefangenenstatus zu erhalten. Alexandrows Anwalt bezieht sich dabei auf die Genfer Konventionen aus dem Jahr 1949. "Kriegsgefangene können generell nicht vor Gericht gestellt werden", sagte der Anwalt nach einer Gerichtssitzung. Der Völkerrechtler Gerd Hankel widerspricht. "Da es keinen Krieg gibt zwischen Russland und der Ukraine, spricht vieles dafür, dass sie im klassischen Verständnis keine Kriegsgefangenen sind", sagte der Experte vom Hamburger Institut für Sozialforschung der DW. Hankel sagt, dass Jerofejew und Alexandrow unter den Schutz eines Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen fallen, die Fälle wie "Rebellion" oder "Aufstand gegen die Zentralmacht" regelt. Gefangene in einem solchen Konflikt müssen "menschlich behandelt werden". Ein Prozess gegen sie "wegen besonderer Verbrechen" sei aber zulässig, so der Völkerrechtler.
Präzedenzfall für ukrainische Justiz
Für die Ukraine ist dieser Prozess besonders wichtig. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn sitzen russische Militärs auf der Anklagebank. Die Ukraine und der Westen haben von Anfang an Russland beschuldigt, die prorussischen Separatisten mit Waffen und mit Truppen unterstützt zu haben. Russland bestreitet jegliche militärische Beteiligung am Konflikt in der Ostukraine.
Zwar hat die Ukraine auch früher russische Militärs im Kriegsgebiet gefangen genommen, tauschte sie jedoch gegen eigene Soldaten aus, die von Separatisten festgehalten waren. Der bekannteste Fall liegt mehr als ein Jahr zurück, als Ende August 2014 neun russische Fallschirmjäger nach wenigen Tagen Gefangenschaft ausgetauscht wurden. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte damals, die Männer hätten sich während einer Armeeübung an der Grenze verlaufen.
Russland nimmt Abstand
Im Fall Jerofejew und Alexandrow verhält sich Moskau anders und distanziert sich. Sie hätten ihren Armeedienst im Dezember 2014 quittiert, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Auch Verwandte bestätigten das in russischen Medien. Die Separatisten behaupten, Jerofejew und Alexandrow seien russische Söldner, die als "Volksmilizionäre" für die selbst ernannte Republik kämpften.
Besonders in den ersten Tagen der Gefangenschaft entstand der Eindruck, Russland habe sie im Stich gelassen. Ein Vertreter der russischen Botschaft habe sich wochenlang nicht blicken lassen, sagte Jerofejew in einem Interview. Später beschwerte sich Moskau, Kiew habe den Zugang verweigert. Der russische Präsident Putin jedenfalls hat die Namen der beiden russischen Kämpfer kein einziges Mal öffentlich erwähnt. Es gibt in Russland auch keine mediale Kampagne für die Freilassung von Jerofejew und Alexandrow.
Austausch gegen Sawtschenko nach dem Urteil?
Das steht im Kontrast zum Verhalten der Ukraine im Fall Nadija Sawtschenko, einer Soldatin, die von prorussischen Separatisten gefangen genommen wurde und jetzt in Russland vor Gericht steht. Sowohl der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, als auch andere Politiker fordern immer wieder ihre Freilassung.
Medienberichten zufolge wollte die Ukraine Russland einen Austausch anbieten: Jerofejew und Alexandrow gegen Sawtschenko und den ukrainischen Filmemacher Senzow, der in Russland zu einer langjährigen Haft verurteilt wurde. Doch offiziell wurde so ein Angebot nicht bestätigt. Viele Beobachter halten einen Austausch nach der Urteilsverkündung für möglich. Auch Viktor Nikoljuk sei dafür. "Man soll sie in die Heimat schicken und gegen Nadija Sawtschenko austauschen", sagt heute der Mann, der Jerofejew und Alexandrow gefangen genommen hat.