1968 - Das Jahr der Kultur-Revolte
3. Mai 2018Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ist noch jung, als die deutsche Nachkriegsgesellschaft Ende der 1960er Jahre in schwerste Turbulenzen gerät: Die Jugend begehrt auf - gegen überkommene Moralvorstellungen, gegen alte Nazigrößen an den Schaltstellen der Macht, gegen den "Muff von 1000 Jahren" unter den Talaren, wie Hamburgs Studenten, die für Mitbestimmung an den Unis demonstrieren, auf ein Transparent pinseln.
Der Spruch wird zur meistzitierten Parole der Studentenbewegung, die eine Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen verlangt, elitäre Strukturen anprangert und Traditionen an den Hochschulen in Frage stellt. Doch das Gesellschaftsklima ist verhärtet. Der Staat will sich für Neuerungen nicht öffnen. Der Konflikt ist vorgezeichnet. Er erschüttert das Land und beschert ihm einen politisch-kulturellen Umbruch, dessen Folgen noch heute spürbar sind.
Mit der West-Integration hat Bundeskanzler Adenauer soeben die Weichen für die außenpolitische Zukunft gestellt, doch innenpolitisch brodelt es: Nach dem Attentat auf den Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967, der bei einer Demo gegen das diktatorische Schah-Regime von einem Stasi-Spitzel erschossen wird, brechen Studentenunruhen los. Demonstrationen, antimilitaristische Aufmärsche, ein Anti-Vietnam-Kongress an der FU Berlin vereinen sich zu bundesweiten Protesten.
Der gesellschaftliche Umbruch 1968 bringt auch die Friedens- und Frauenbewegung in Gang. "Mehr Demokratie", "Frieden schaffen mit weniger Waffen", "Gleichberechtigung für Mann und Frau" – solche Parolen stehen auf den Fahnen und Spruchbändern der "68er-Bewegung" - in Westdeutschland.
Revolte gegen alte Machteliten
Das politische System der jungen Bundesrepublik ist durchsetzt von nationalsozialistischen Führungseliten. Viele Nazis haben die nach Kriegsende von den Allierten verordnete Entnazifizierung umgangen und Karriere in den Staatsapparaten, Kulturinstitutionen und an den Hochschulen des Landes gemacht. Die deutsche Gesellschaft ist in einer althergebrachten, patriarchalischen Struktur erstarrt, das Kulturleben von überholten Traditionen und Ritualen bestimmt.
Der Rektor der Universität zu Köln etwa lässt sich von den Studenten noch mit "Seine Magnifizienz" anreden. Die Studierenden tragen bis Mitte der 60er Jahre Anzug und Krawatte und siezen sich. Die Mehrzahl der deutschen Professoren war schon in der Nazizeit an ihren Hochschulen beschäftigt. Viele setzen jetzt, nach 1949 - und zum Teil ungebrochen - ihre ideologisch gefärbten Vorlesungen und Lehrveranstaltungen fort.
Als in Hamburg das revolutionäre Spruchband "Unter den Talaren - der Muff von 1000 Jahren" auftaucht, hat das Signalwirkung: "Sit ins" und Go ins" heißen neue Protestformen, die sich jetzt ausbreiten und, wo nötig, den Hochschulbetrieb lahmlegen. Eine Hochschulreform wird unumgänglich.
Anarchie und Spaßguerilla
Das Aufbegehren der Studenten wird befeuert, als es im Mai 1968 in Paris zu tagelangen Straßenschlachten zwischen Polizei und Studenten kommt. Die Studentenschaft hat die altehrwürdige Universität "Sorbonne" besetzt. Doch gewaltsam werden die Proteste niedergeschlagen und die Gebäude geräumt.
Mitgekämpft hat auch Daniel Cohn-Bendit. Der Studentenführer muss das Land verlassen und kommt nach Deutschland, wo er schnell zu einer Führungsfigur der 68er-Bewegung aufsteigt. "Macht kaputt, was Euch kaputt macht" gröhlen die Studenten.
Ein Hauch von Revolution durchweht die konservative Nachkriegs-BRD. Hochschulen werden umbenannt in "Karl-Marx-Universität" oder "Rosa-Luxemburg-Institut". Eine Außerparlamentarische Opposition (APO) formiert sich, aus der später die terroristische Rote Armee Fraktion (RAF) hervorgehen wird. Musik, Tanz, Theater und alternative Kulturgruppen greifen immer häufiger revolutionäre Themen auf und fordern eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die Rolling Stones setzen dem "Street Fighting Man" musikalisch ein Denkmal, die Beatles bringen 1968 "Revolution" als Platte raus. Auf Deutschlands Kleinbühnen singen Liedermacher wie Hannes Wader und Dieter Süverkrüp gegen Polizeigewalt und deutsche Spießigkeit.
Das Erbe der 68er Revolte
Und 50 Jahre später? Was ist geblieben von dem Kultur-Umbruch des Jahres 1968? Das Kulturklima hat sich verändert, ebenso wie das Zusammenleben von Mann und Frau - die Vergewaltigung in der Ehe etwa ist nicht länger straffrei, Ehefrauen haben mehr Rechte bekommen, der Paragraph 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, ist abgeschafft; die früher legale Prügelstrafe an Schulen und in Elternhäusern ist unter Strafe gestellt und gesellschaftlich geächtet.
Auch die Frauenbewegung nimmt 1968 ihren Anfang und bricht Anfang der 1970er Jahre das patriarchalische Gefüge der Bundesrepublik Deutschland auf. Das Recht auf Abtreibung und die Abschaffung des Paragraphen 218 wird erkämpft. Bis heute wirken die Forderungen der Frauen nach Gleichberechtigung nach.Väter dürfen heute ebenso Elternzeit nehmen wie die Mütter ihrer Kinder. Die selbstverwalteten "Kinderläden" in alten 1968er Tagen lassen grüßen.
Alles braucht seine Zeit - und kommt zu gegebener Zeit wieder: Der Protestsong "The times they are changing" von Bob Dylan - inzwischen Literatur-Nobelpreisträger - wird heute wieder von jungen Leuten gehört - allerdings im digitalen Streaming, nicht auf Schallplatte wie 1968.