Privatschulen: Hat das deutsche Schulsystem versagt?
25. Dezember 2023"Wenn ich das Geld dafür hätte, würde ich meine Tochter auf eine dieser Reichenschulen schicken. Es ist der einzige Ausweg aus diesem System", sagt Luisa*. Ihre Kinder hätten an staatlichen lokalen Schulen schlichtweg nicht die Unterstützung bekommen, die sie gebraucht hätten. Die Lehrer seien oft krank und viele Kinder sprächen kaum Deutsch. "Es war ein Wettkampf nach unten, sozusagen. So viele Kinder brauchten spezielle Unterstützung, dass sich der Lehrer nur darauf fokussiert hat. Und dann gab es keine individuelle Betreuung für talentiertere Kinder mehr", erklärt sie.
Luisa fand ihre persönliche Lösung: sie schickte ihre Kinder auf eine katholische Schule in Berlin. Sie habe diese Schule nicht aus religiösen Gründen ausgesucht, sondern weil es ein starkes Gemeinschaftsgefühl gebe, sagt sie. "Es ist eine sehr freundliche Atmosphäre, sehr persönlich, ich mag es sehr." Und die monatlichen Gebühren sind für Luisa machbar: Die Schule verlangt zwischen 180 und 360 Euro, gestaffelt nach Elterneinkommen.
Eine Privatschule befindet sich im Gegensatz zur staatlichen Schule in der Verantwortung eines freien Schulträgers. Das können kirchliche Organisationen, Sozialwerke, Vereine, Personengesellschaften oder Privatpersonen sein.
Staatliche Schulen und Universitäten sind kostenlos in Deutschland. Aber immer mehr Eltern entscheiden sich dafür, die durchschnittlich 2030 Euro Jahresgebühr einer der Privatschulen des Landes zu zahlen - eine Option, die nicht viele Eltern haben in einem Land mit einem Durchschnittseinkommen unter 4000 Euro abzüglich Steuern.
Dennoch belegen die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes einen Anstieg: Fast zehn Prozent der Schüler und Schülerinnen besuchten 2022/23 eine Privatschule, vor 20 Jahren betrug dieser Wert noch sechs Prozent. Und weil ein Großteil der Privatschulen in Deutschland staatlich subventioniert wird, sind die Gebühren in Deutschland im Vergleich zu den USA (16.050 US-Dollar) oder Großbritannien (17.677 US-Dollar) noch relativ gering.
Deutschlands angeschlagenes Schulsystem
Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Und dennoch ist das Schulwesen verkümmert. Die Gebäude zerfallen buchstäblich, häufig sind sie sogar wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Wie im gesamten Land verläuft auch an Schulen die Digitalisierung schleppend: Computer sind rar und es gibt kein WLAN. Lehrer und Lehrerinnen werden händeringend gesucht, der Krankenstand ist hoch. Viele verlassen den Berufsstand, weil sie erschöpft und die Arbeitsbedingungen schlecht sind. Die Generation aus den geburtenstarken Jahrgängen geht in Rente.
Die jüngste PISA-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) ergab, dass Neuntklässler so schlecht wie nie abschnitten, vor allem in den Fächern Mathe, Naturwissenschaften und Lesefähigkeit - es folgte das Kopfzerbrechen darüber, wo das Land der Dichter und Denker in Sachen Bildungswesen falsch abgebogen ist.
Ein Grund, der häufig genannt wird, ist die Migration. Ungefähr 217.000 ukrainische Flüchtlingskinder besuchen inzwischen eine Schule in Deutschland. "Die Leistung an Gymnasien sind auch sehr stark zurückgegangen, wo Migranten kaum zu finden sind. Es ist mehr als nur ein Migrations-spezifisches Problem mit dem wir hier zu tun haben", sagt Marcel Helbig, Bildungsexperte am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe.
Hinzu kommt: es gibt immer mehr Schüler und Schülerinnen. Laut Statistischem Bundesamt starteten im Jahr 2023 830.000 Schüler und Schülerinnen ihre Schullaufbahn, so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr.
Das sozioökonomische Gefälle
Das wahre Problem, sagen zahlreiche Experten, sei die Struktur des Schulsystems an sich. In Deutschlands föderaler Struktur ist Bildung Ländersache. Das führt zu einem Flickenteppich mit verschiedensten Schulformen.
In Deutschland gehen die meisten Kinder auf eine Grundschule in ihrem Einzugsgebiet. Nur in urbanen Gebieten haben Eltern die Wahl zwischen mehreren Schulen. Die Entscheidung, ob ein Kind ein Gymnasium besuchen darf, fällt früh, meist ungefähr im Alter von 10 Jahren.
Stephan Köppe ist Assistenzprofessor für Sozialpolitik am University College Dublin. Er sagt, dass beispielsweise Akademiker in Neukölln, einem der ärmsten Viertel Berlins, wahrscheinlich keine Schule im Einzugsgebiet für ihre Kinder wählen würden. "Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Eltern in Berlin schon ihre Heimatadressen gefälscht haben, um eine bessere Schule in einem anderen Einzugsgebiet zu erwischen."
Was für das einzelne Kind eine womöglich gute Lösung sein mag, ist es gesellschaftlich betrachtet nicht unbedingt. Denn so geraten Kinder aus einer abgehängten sozioökonomischen Herkunft ins Abseits - verdrängt und isoliert in staatliche Schulen in armen, urbanen Gebieten. Letztendlich sei das schlecht für den sozialen Zusammenhalt, sagt Marcel Helbig. Er verweist auf ein Beispiel einer Kleinstadt in Thüringen mit zwei staatlichen und zwei privaten Schulen. Auf letzterer seien keine Kinder mit Migrationshintergrund oder mit Eltern, die auf Sozialleistungen angewiesen seien.
"Viele Eltern aus höheren Schichten, vor allem Akademiker-Eltern, fühlen sich durch die Modelle der Privatschulen angezogen. Es ist dabei wirklich schwer zu trennen, ob sie die Pädagogik dort so toll finden, oder ob es auch damit zu tun hat, dass sie ihre Kinder nicht in die öffentlichen Schulen geben wollen, weil beispielsweise der Migrantenanteil so hoch ist", sagt Helbig.
Auf bestem Weg in die soziale Ungleichheit?
Genau das ist die Befürchtung: durch die Abkehr gebildeter, wohlhabender Eltern vom staatlichen Schulsystem könnte die soziale Ungleichheit befeuern werden.
Stephan Köppe betrachtet das System der Privatschulen in Deutschland, Schweden und den USA wissenschaftlich. Er sagt, es gebe keine Nachweise dafür, dass Kinder auf Privatschulen besser abschnitten als auf staatlichen Schulen. Der Bildungserfolg in Deutschland sei nach wie mit dem sozioökonomischen Hintergrund verknüpft. "Wirklich besorgniserregend ist, dass das entweder auf wirkliche Abneigung zum staatlichen Schulsystem verweist oder auf kulturelle Veränderungen, die bisher nicht erklärt wurden."
Das Grundgesetz, die deutsche Verfassung, garantiert das Recht darauf, Privatschulen zu gründen. Damit sollte ursprünglich die religiöse Vielfalt gesichert werden. "Im Hinblick auf die Demokratie würde ich nicht dafür plädieren, Privatschulen zu verbieten oder abzuschaffen", sagt Stephan Köppe. "Aber die Frage ist: muss man sie ermutigen?"
Deutschland sei noch weit entfernt von der Ungleichheit, die Privatschulen in anderen Bildungssystemen wie den USA oder Großbritannien hervorgebracht hätten. "Mit der Zeit könnten Privatschulen auch hier zu mehr Ungleichheit führen", sagt Köppe. "Aber bislang bleibt das größte Problem in Deutschland die frühe Unterscheidung in weiterführende Schulen."
(*Der Name wurde geändert)
Dieser Text wurde aus dem Englischen ins Deutsche adaptiert.