Wenn sich der Staat zurückzieht
22. Oktober 2021Deutschland blickt bei der Privatisierung von Staats-Unternehmen auf mehr als sechs Jahrzehnte Erfahrung zurück. Schon in den 1960er Jahren wechselten riesige Konzerne wie Volkswagen oder der Bergbau- und Elektrizitätskonzern VEBA teilweise in die Hände privater Anteilseigner. Die Bundesregierung wollte damals aber nicht in erster Linie träge Staatskonzerne effizienter machen, erklärt Detlef Sack von der Bergischen Universität Wuppertal. "Diese Privatisierungswelle in den 1960er-Jahren wurde wesentlich von der Idee getrieben, dass man hier Teile von Staatsunternehmen nimmt und an die Bevölkerung veräußert, und zwar in der gesamten Breite", erklärt der Politikwissenschaftler, der in seinem 2019 erschienenen Buch Vom Staat zum Markt die Geschichte der Privatisierung in Deutschland und Europa ausführlich untersucht hat.
Die Idee sei gewesen, die deutsche Bevölkerung vermehrt am Aktienmarkt zu beteiligen. Die neuen Aktionäre sollten aus der gesamten Bevölkerung kommen und stärker an der sozialen Marktwirtschaft teilhaben, erklärt Sack.
Mega-Börsengänge Telekom und Deutsche Post
Auch mehr als 30 Jahre später, beim ersten Börsengang der Deutschen Telekom Ende 1996, wurden die Anteile am Staatskonzern als "Volksaktie" vermarktet. Der damalige Telekom-Chef Ron Sommer versprach sogar, die T-Aktie werde so "sicher wie eine vererbbare Zusatzrente sein". Spätestens nach dem Platzen der Technologieblase an den internationalen Finanzmärkten lösten sich ab März 2000 solche Versprechen in Luft auf.
"Auch hier gab es die Idee, staatliches Eigentum zu veräußern, um die Bürgerinnen und Bürger in ihrer gesamten Breite am materiellem Wohlstand teilhaben zu lassen", so Sack.
Frust-Erfahrung T-Aktie
Börsenneulinge wurden von Bankberatern zum Kauf von Telekom-Aktien ermutigt, ohne darauf hingewiesen zu werden, dass es nicht ausreicht, nur auf ein einziges Wertpapier zu setzen. Dass man zur Risiko-Begrenzung auf eine ganze Reihe von Wertpapieren aus verschiedenen Branchen und Ländern setzen sollte, wurde nur zu oft im damaligen Börsen-Fieber unterschlagen. Die Folge: Kursverluste, großer Frust und viel verlorenes Vertrauen (und Kapital) bei Hunderttausenden von Neu-Börsianern.
Besser lief es dagegen für die Privatanleger der Deutschen Post. Das seit November 2000 teilprivatisierte Unternehmen profitiert seit vielen Jahren mit seiner US-Tochter DHL besonders stark vom Online-Trend im Einzelhandel - und dem Geschäft mit der Auslieferung von Paketen von Amazon, Zalando und Co.
Was sich damals schon bei der Deutschen Post abzeichnete, setzte sich in den vergangenen 20 Jahren als Trend weiter fort: Immer stärker rückten bei der Privatisierung staatlicher Unternehmen institutionelle Anleger in den Vordergrund.
"Heutige Privatisierungen sind wesentlich von der Überlegung getrieben, dass Staatsunternehmen effizienter werden müssen. Die Anleger kommen vom Kapitalmarkt. Das ist eine ganz andere Logik", unterstreicht Experte Sack.
Heute, mehr als 20 Jahre nach den Mega-Börsengängen von Deutsche Telekom und Deutsche Post, ist nur noch wenigen Menschen bewusst, dass die beiden international engagierten Großkonzerne aus der behäbigen und verstaubten Deutschen Bundespost hervorgegangen sind. 1995 hatte man die staatliche Behörde in drei privatrechtliche Aktiengesellschaften aufgeteilt: Deutsche Post, Deutsche Telekom und Deutsche Postbank, die später von der Deutschen Bank übernommen wurde.
Gewinner und Verlierer
Insgesamt sind die Erfahrungen bei der Privatisierung von Staatsunternehmen in Deutschland sehr unterschiedlich. Besonders, wenn es um Gewinner und Verlierer geht. Und da stehen vor allem viele Beschäftigte bei den Privatisierungen der vergangenen 20 bis 30 Jahren auf der Verliererseite, bestätigt Sack. "Diejenigen, die vorher in staatseigenen Betrieben beschäftigt waren, sind die Verlierer dieses Prozesses. Effizienzgewinne bedeuteten ganz häufig, dass das mittelfristig zu Entlassungen und der Reduktion von Beschäftigung geführt hat."
Auf der Gewinnerseite sieht Detlef Sack indirekt die Steuerzahler, weil durch den Verkauf von Staatsbetrieben Geld in die öffentlichen Haushalte fließt. Außerdem würden viele Führungskräfte davon profitieren, wenn sie weiter im privatisierten Unternehmen tätig sind und dadurch mit marktüblichen Gehältern ihr Einkommen verbessern können.
Das sei bei vielen privatisierten Volkseigenen Betrieben der DDR der Fall gewesen. Dass die Privatisierung von DDR-Staatsbetrieben oft ihren Untergang nicht verhindern konnte, erklärt Sack vor allem mit dem plötzlichen Wettbewerbsschock, dem DDR-Unternehmen nach der Wende ausgesetzt waren. "So standen die Werften mit einem Mal im Konkurrenzdruck gegenüber Werften in Südkorea und Taiwan, um ein Beispiel zu geben."
Gesundheitssektor mit gemischter Bilanz
Beim Blick auf Privatisierungen im Gesundheitssektor zieht Detlef Sack eine gemischte Bilanz. Nach der Privatisierung kommunaler oder landeseigener Krankenhäuser seien viele soziale Dienstleistungen abgebaut worden, etwa bei der psychologischen Betreuung von Patienten und deren Angehörigen. Dagegen habe es etwa nach dem Verkauf der Hamburger Landes-Krankenhäuser an die privaten Asklepios-Kliniken auch einen positiven Effekt für Patienten gegeben: Hier sei das Angebot an spezialisierten Behandlungen deutlich ausgebaut worden, unterstreicht Sack.
Nicht immer Jobabbau
Dass Privatisierungen nicht immer zu einem Jobabbau führen, zeigt sich auch in der Abfallwirtschaft. Der Grund: Ein hoher Anteil an gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten mit Tarifverträgen bei den kommunalen Abfallwirtschafts-Unternehmen. Auch nach der Privatisierung sei es hier nicht flächendeckend zu einem gravierenden Rückgang bei der Beschäftigung gekommen. "Hier haben die Beschäftigten eine eigene Rolle gespielt. Und wenn sie in der Lage sind, sich stark kollektiv zu organisieren, dann ist die Abfallentsorgung zumindest in einigen westdeutschen Regionen durchaus ein ganz positives Beispiel", so Sack.
Abschreckende Beispiele
Besonders die Privatisierung von kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbaugesellschaften sieht Sack aber als großen Fehler. "Das sind rückblickend betrachtet Fehler gewesen. Man muss aber sagen, dass die einhergehen mit anderen Tendenzen, nämlich dass nicht genug Wohnungen gebaut wurden." Außerdem habe die öffentliche Hand nicht ausreichend bezahlbare Wohnungen mit Zuschüssen gefördert.
Eine Teilschuld für die heutige Wohnungsknappheit in deutschen Großstädten und die Explosion der Mietpreise sieht Sack bei den politisch Verantwortlichen in den Kommunen und Landesregierungen. "Die haben das nicht rechtzeitig realisiert und nicht rechtzeitig gegengesteuert." Die Privatisierungen im Wohnungssektor hätten zwar einen Anteil an den stark gestiegenen Wohnkosten, sie seien "aber nicht das Entscheidende."
Horrorbespiel British Rail und sinkende Service Qualität
Als negative Beispiele sieht Sack zentrale Teile der Privatisierungspolitik unter der britischen Premierministerin Margret Thatcher in den 1980er Jahren. Vor allem die Privatisierung der britischen Staatsbahn British Rail und dem Schienennetzbetreiber Railtrack habe dazu geführt, dass die Infrastruktur der britischen Eisenbahnen stark vernachlässigt wurde. Für Sack ein Beispiel, wie nach einer Privatisierung die Service-Qualität stark zurückgehen kann.
Deutsche Bahn-Nutzer können das nachvollziehen, obwohl der in den 1990er Jahren gefasste Plan, die Deutsche Bahn zu privatisieren, wieder fallen gelassen wurde. Um die Bilanz des Börsen-Kandidaten aufzuhübschen, wurde trotzdem jahrelang so wenig in Schienennetz, Weichen und Stellwerke investiert, dass eine Fahrt mit der Deutschen Bahn heute noch immer einer Abenteuerreise gleicht, bei der man mit Verspätungen, Zugausfällen und überfüllten Waggons rechnen muss. Immerhin: Von einem Börsengang der Deutschen Bahn ist keine Rede mehr - und mit riesigen Investitionsprogrammen versucht man, die Infrastruktur auf Vordermann zu bringen.
Was bleibt, wenn das staatliche Tafelsilber verkauft ist?
Bis heute wird heftig darüber diskutiert, was bleibt, wenn ein Land sein Tafelsilber irgendwann verkauft hat. Macht das eine Gesellschaft insgesamt ärmer und weniger handlungsfähig?
Detlef Sack räumt ein, dass es eine Gesellschaft in Teilen weniger handlungsfähig macht. "Ärmer macht es sie aber nicht." Man müsse sich von der Vorstellung lösen, dass die Geldsumme immer gleich bleibe. Schließlich verschwinde das Geld ja nicht irgendwo auf dem Kapitalmarkt, sondern fließe von dort auch wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück.