'Ungerecht und unpräzise'
27. Februar 2007Die konservative britische Zeitung The Times findet, die Zeit für serbische Kriegsverbrecher sei abgelaufen:
"Das Urteil ist ein seit langem erwartetes Eingeständnis der eingeschränkten Autorität eines jeglichen internationalen Gerichts - mit einem indirekten Angebot für einen Kuhhandel. Serbien wird von der Anklage des Völkermords freigesprochen und soll im Gegenzug endlich den Willen aufbringen, die Hardliner Ratko Mladic und Radovan Karadzic auszuliefern. Mit etwas Glück und Geduld könnte es dann wenigstens eine Art Gerechtigkeit geben. (…) Daher ist dieses Urteil eine Botschaft an die Individuen, die immer noch im Zusammenhang mit der Balkan-Tragödie der neunziger Jahre gesucht werden: Eure Zeit ist vorüber."
Offenbar wollten sich die Richter nicht festlegen, kommentiert die römische Zeitung La Repubblica:
"Dies ist ein Gerichtsurteil, das sich einfach nicht festlegen will. Um dies zu erreichen, muss es sich auf einen juristischen Formalismus beschränken. Um zu entscheiden, ob General Mladic, als er den Völkermord plante und ausführte, tatsächlich im Auftrag Belgrads handelte, hatte das Gericht Beweise verlangt, ob ihm Belgrad ganz bestimmte Befehle hatte 'zukommen lassen', diesen Völkermord auszuführen. Hatte es wirklich nicht genügt, dass die Führung der serbisch-bosnischen Militärs von Belgrad bezahlt und finanziert wurde und zudem mit der politisch-militärischen Führung in Serbien verbunden war?"
Die in Sarajevo erscheinende Zeitung Dnevni avaz hält das Haager Urteil für ungerecht:
"Nur unverbesserliche Idealisten konnten hoffen, dass gestern aus Den Haag ein Urteil kommen werde, dass ausschließlich auf Gerechtigkeit basiert. Vom UN-Gerichtshof wurde nur ein unpräzises und unschlüssiges Urteil erwartet, wie es ohnehin die Politik der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates ist. (…) Trotzdem ist das gestrige Urteil ein historisches. Erstmals in der Geschichte wurde gesagt, dass an einem Volk ein Genozid verübt wurde und dass Serbien deswegen die juristische, politische und moralische Verantwortung übernehmen muss, denn es hatte das Übel nicht gestoppt, obwohl es dazu in der Lage Gewesen wäre. Ein Volk und ein Regime, das dem Genozid applaudiert hat, wird nie mehr erhobenen Hauptes durch die Welt gehen können."
Die regierungsnahe Belgrader Zeitung Politika betont die Bedeutung des Völkermord-Urteils für das "serbische kollektive Schicksal":
"Für die restliche Welt wird dies für immer ein Genozid bleiben. Das Verbrechen in Srebrenica haben Serben, Einzeltäter vom anderen Drina-Ufer, begangen, und Serbien war ihnen dabei nicht behilflich, sagt das Gericht. (...) Für das serbische kollektive Schicksal kann es aber nicht unwichtig sein, dass die Nachbarn in Bosnien dieses Urteil als gute Grundlage für eine radikale Delegitimierung der Serbischen Republik in Bosnien ausnutzen werden. Somit wird das Haager Urteil die Missverständnisse auf den beiden Drina-Ufern nicht lösen."
Dagegen ist die Neue Zürcher Zeitung der Meinung, Serbien könne mit dem Urteil "gewiss gut leben":
"Das Massaker von Srebrenica wird zwar explizit als Völkermord bewertet, was Belgrad bis heute in Abrede stellt. Auch wird die damalige serbische Führung dafür zumindest mitverantwortlich gemacht. Belgrads Behauptung aber, in keiner Weise in die Ereignisse von Srebrenica verwickelt gewesen zu sein, ist damit endgültig unhaltbar. Bis heute hat die serbische Führung das Massaker offiziell nicht verurteilt. Das höchste UNO-Gericht hat jedoch die Frage der Kriegsschuld offen gelassen und den serbischen Staat nicht pauschal für die von Serben in Bosnien begangenen Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht. Schuldig sind einzelne Personen, und diese gilt es weiterhin strafrechtlich zu verfolgen."
Die konservative Pariser Zeitung Le Figaro glaubt, eine Kollektivstrafe hätte nur die Gegner der Versöhnung gestärkt:
"Wenn das Gericht dem serbischen Staat eine Verantwortung gegeben hätte, dann hätte das die Strafe der Reparationen nach sich gezogen. Die Bürger Serbiens hätten die Kosten getragen. Eine Kollektivstrafe hätte in Serbien nur die härtesten Nationalisten und Gegner jeder Form der Versöhnung gestärkt. Hier liegt das ganze Interesse des Urteils des Internationalen Gerichtshofes. (...) Nachdem Serbien jetzt von jeder Schuld des Völkermords in Bosnien freigesprochen wurde, dürfte nichts mehr einer Auslieferung von Karadzic und Mladic an das internationale Jugoslawien-Tribunal entgegenstehen. Somit würde sich der Weg für eine volle Zusammenarbeit Belgrads mit der Europäischen Union und ein neues Zeitalter auf dem Balkan öffnen."
Die niederländische Zeitung de Volkskrant fordert die EU dazu auf, aus dem Urteil Konsequenzen für seine Beziehungen zu Serbien zu ziehen:
"Der Internationale Gerichtshof hat zu Recht entschieden, dass er sich in dieser politisch aufgeladenen Sache kein angreifbares Urteil erlauben kann - wie groß und verständlich auch die Neigung ist, den Opfern einer Instanz, die unübersehbar Blut an den Händen hat, gerecht zu werden. Aber mit einem umstrittenen Präzedenzfall ist niemanden und nichts gedient. (...) Serbien hat wenig Grund erleichtert zu sein. Denn das höchste UN-Gericht hat sehr wohl festgestellt, dass Belgrad bei der Verhinderung von Kriegsverbrechen wie in Srebrenica und bei der Verfolgung der Täter seine Pflicht nicht erfüllt hat. Dieses Urteil muss für die Europäische Union ein zusätzlicher Grund sein, die Beziehungen zu Serbien unterkühlt zu halten."