Pressefreiheit in der Ukraine
8. Juni 2012"Kritik gibt es nur im Internet. Doch einen Zugang dazu haben nur 40 Prozent der ukrainischen Bevölkerung", sagte Oleksandra Indyukhova. Die Korrespondentin der Deutschen Welle war einer Experten-Diskussion am Freitag (08.06.2012) im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin zum Thema per Skype aus Charkiw zugeschaltet. "Oppositionelle Positionen gibt es in den konventionellen Medien wie Zeitung, Radio oder Fernsehen kaum noch."
Barbara Oertel, Osteuropa-Expertin und Leiterin der Auslandsredaktion der "tageszeitung" (taz), pflichtete der jungen Journalistin bei. "Es liegt ein Mehltau auf der Medienlandschaft", sagte Oertel, die bereits mehrfach als Reporterin in der Ukraine war. Bei der Orangen Revolution habe sie die Berichterstattung als offen und kritisch empfunden. Als sie allerdings kürzlich vor Ort war, erlebte sie eine große Veränderung. "Die Menschen auf der Straße sind eingeschüchtert. Sie trauen sich nicht, auf Fragen von Journalisten zu antworten - 2004 war das noch ganz anders."
Die Menschen hätten sich zurückgezogen, kritische Meinungen würden nicht öffentlich, sondern im Privaten - am Küchentisch - geäußert. Diese Küchentischgespräche sind auch Olaf Sundermeyer vertraut, Journalist und Autor des Fußball-Buches "Tor zum Osten". So habe er beispielsweise lange und ausführlich mit dem Chefredakteur einer ukrainischen Fußball-Zeitschrift an dessen Küchentisch über all diejenigen Dinge gesprochen, die bei den Vorbereitungen zur EM schief gelaufen seien: überteuerte Stadienbauten, die damit verbundene Korruption, horrende Hotelpreise oder die scheinbar freiwilligen Helfer rund um das Mega-Event. Nach der Diskussion hätte die Zeitschrift die Kritik Sundermeyers in Zitatform wiedergegeben. "Indem ich als ausländischer Journalist zitiert wurde, fühlte sich das Magazin sicherer, diese Meinung zu veröffentlichen."
"Ukrainer sind genervt und frustriert"
Durchweg positiv würde vor allem in Radio und Fernsehen über die Vorbereitungen zur Europameisterschaft berichtet, sagte Clemens Hoffmann, der bis 2010 als Korrespondent in Kiew gearbeitet hat und weiterhin journalistische Trainings in der Ukraine für die DW Akademie durchführt. "Das gilt insbesondere für lokale Sender: Sie gehören in der Regel privaten Investoren, die wiederum verwandt oder verschwägert mit Baufirmen und anderen Unternehmern sind. Da wird es niemals eine kritische Berichterstattung geben."
Radiojournalist Viktor Voloshchenko - ebenfalls per Skype aus Charkiw zugeschaltet - bemängelte in diesem Zusammenhang, dass ukrainische Politiker die Europameisterschaft mit Hilfe der Medien benutzen, um ihr eigenes Image aufzupolieren: "Die machen Wahlkampf mit der EM. Sport ist in der Ukraine derzeit sehr politisch." Barbara Oertel gab ihm Recht. Sie habe aber auch die gleichen Erfahrungen mit deutschen Politikern gemacht. "Plötzlich äußert sich jeder über die Ukraine, manche forderten ja gar den Boykott der EM." Oertel ärgert sich über die fehlenden Landeskenntnisse und über den "Schwachsinn von deutschen Politikern", den sie in den vergangenen Wochen zu hören bekommen habe. "Dabei geht es denen gar nicht um die Zukunft des Landes, sondern nur um die Selbstdarstellung."
Die Chance: 21 Tage lang für Kritik
Bei aller Selbstdarstellung werde die ukrainische Bevölkerung vergessen, sagte Clemens Hoffmann. Bei seinem letzten Besuch habe er viele Ukrainer als genervt und frustriert erlebt. "In Kiew steht jetzt das teuerste Stadion der Welt - aber die normale Bevölkerung hat gar nichts von diesen Investitionen. In den Städten, in denen keine Spiele ausgetragen werden, ist nichts von den Infrastrukturgeldern angekommen."
Olaf Sundermeyer äußerte bei dem Austausch mit anderen Medienvertretern außerdem massive Kritik an der Entscheidung für die Ukraine als Austragungsland. "Dieses Mega-Event unterstützt vor allem die derzeitigen politischen Machthaber." Barbara Oertel ist da ganz anderer Meinung: "Wir haben jetzt 21 Tage lang Zeit, alles, was wir schon immer über die Ukraine erzählen wollten, zu berichten." Die westlichen Medien stünden hier in einer Verantwortung, sagte Oleksandra Indyukhova. "Wenn der Großteil der ukrainischen Journalisten weiterhin so unkritisch berichtet, laufen wir Gefahr, dass die Bürger vergessen, dass es auch noch andere Meinungen gibt."