Kunstmagazin kürt "Black Lives Matter"
3. Dezember 2020Was auf den ersten Blick vielleicht verwundern mag, lässt sich durch die Begründung der Jury schnell erklären: Die Bewegung "Black Lives Matter" hat es in diesem Jahr auf Platz eins des Kunstrankings "Power 100" geschafft, weil sie zu einem "Paradigmenwechsel in der aktuellen Kultur" geführt habe. Infolge der Proteste gegen die Diskriminierung von Schwarzen seien Denkmäler gestürzt worden, Galerien hätten eilig ihre Programme diversifiziert, zeitgenössische schwarze Künstler seien sichtbarer geworden und Museen überdächten, wen sie repräsentierten.
Tatsächlich hat Black Lives Matter nicht erst seit der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt einen großen Einfluss auf die Popkultur. Die Debatte über Gleichberechtigung, Diskriminierung und Rassismus bildet sich längst auch in Film und Musik ab, beispielsweise in der Comic-Verfilmung "Black Panther".
documenta und Restitution
Auf Platz zwei des Rankings liegt in diesem Jahr das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa, das die Kasseler documenta im Jahr 2022 kuratieren wird. Im vergangenen Jahr war die Gruppe bereits mit Platz zehn berücksichtigt worden. Auf den dritten Platz wählte die - anonyme - Jury die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und den senegalesischen Sozialwissenschaftler Felwine Sarr, die 2018 im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron die Bedingungen für die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter aus der Kolonialzeit untersucht haben. Sie lagen im Vorjahr auf dem sechsten Platz.
Glenn D. Lowry, Direktor des Museum of Modern Art in New York, liegt 2020 auf Platz sieben. Im vergangenen Jahr führte er das Ranking an, nachdem das MoMA mit einer 450 Millionen Dollar teuren Erweiterung und einem komplett überarbeiteten Museumskonzept wiedereröffnet hatte. Die deutsche Sammlerin Julia Stoschek hat in der aktuellen Rangliste Platz 33 inne.
Gesellschaftspolitische Auswahl
Die Liste der "Power 100" umfasst diesmal viele Protagonisten und Aktivisten, die aktuelle gesellschaftspolitische Themen verhandeln. So liegt etwa die Philosophin und Geschlechterforscherin Judith Butler auf Platz zehn, auf Platz neun rangiert die Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman, die ein Buch über junge schwarze Frauen in New York und Philadelphia im frühen 20. Jahrhundert geschrieben hat. Hartman steht exemplarisch für die fließenden Übergänge von Wissenschaft, Aktivismus, Kultur und Politik: 2017 war sie im Video zu "4:44" des Rappers Jay-Z zu sehen.
Auch die #MeToo-Bewegung gegen sexuelle Belästigung wurde erneut berücksichtigt und liegt auf dem vierten Platz. 2018 war sie von "ArtReview" als erste gesellschaftliche Bewegung in den "Power 100" gewürdigt worden und hatte Platz drei erreicht.
Eigene Akzente oder unabhängige Kriterien?
Mit dem Ranking kürt das britische Kunstmagazin seit 2001 die einflussreichsten Leute in der Kunstwelt. Dabei gibt es natürlich auch Kritik. So wird "ArtReview" vorgeworfen, keine unabhängigen Kriterien anzulegen, sondern schlichtweg eigene Akzente setzen zu wollen. Und tatsächlich finden sich auf der diesjährigen Liste Entscheidungen, die etwas willkürlich anmuten. So lag die US-Porträt-Fotografin Nan Goldin beispielsweise im vergangenen Jahr auf Platz zwei, diese Jahr reichte es gerade noch für Platz 91. Lässt sich binnen eines Jahres so viel Einfluss verlieren?
Auch in Deutschland gibt es mit dem "Kunstkompass" des Wirtschaftsmagazins "Capital" ein jährliches Kunstranking, in dem jedoch ausschließlich Künstlerinnen und Künstler berücksichtigt werden. Die britischen "Power 100" sind übrigens nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls "Power 100" betitelten Ranking des US-Magazins "Billboard", das die einflussreichsten Köpfe der Musikindustrie auflistet.