Post für Angela Merkel
18. August 2005Sehr geehrte Frau Dr. Angela Merkel,
sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat Deutschland mit Ihnen erstmals die Chance auf eine Frau als Regierungschefin. Sie werden aller Voraussicht nach nicht nur Deutschland mindestens vier Jahre regieren, sondern auch Europas Zukunft entscheidend mitgestalten.
Nach 45 Jahren in Deutschland und mit den Deutschen wünsche ich mir ein Europa, das Menschen unabhängig von ihren nationalen, kulturellen und religiösen Ursprüngen zueinander führt, das weltpolitisch entscheidend dazu beiträgt, Kriege zu verhindern, Krisen vorzubeugen, Leiden zu minimieren, Wohlstand zu vermehren. Dazu gehört die Ermöglichung einer Begegnung von Kulturen und Religionen als Gegengift gegen den Frontalzusammenstoß zwischen Kulturen und Religionen.
Ängste müssen abgebaut werden
Kein anderes Land als die Türkei mit einer aufrichtigen europäischen Perspektive bietet sich als Prüfstein und Chance für Europa, wenn aus Visionen Wirklichkeit werden soll. Das Land beweist, dass islamische Religion bei zeitgenössischer Auslegung und Demokratie koexistieren können.
Die Deutschen fürchten sich vor der Freizügigkeit, vor "Türkenfluten", vor einem Verlust von Arbeitsplätzen. Gewarnt wird vor einem Abfluss der Gelder in die türkischen Töpfe aus den Töpfen für Aufbau Ost, vor einem Scheitern der angestrebten politischen Union, vor einer Gefährdung der christlich-jüdischen Wurzeln Europas – um nur einige Glieder der Kette der nachvollziehbaren, aber bei richtiger Analyse abbaubaren Ängste vor einem Beitritt der Türkei zur EU zu nennen.
Die Türkei, die weder Almosen - wie einst Deutschland die Rosinenbomber - noch Lehrmeister - wie die einstigen Siegermächte - braucht, ist ein Staat, der in seinen heute noch bestehenden und international unumstrittenen Grenzen 1923 gegründet worden ist. Damit begann ihre Existenz aus dem Schutthaufen des Osmanischen Imperiums zehn Jahre vor der Machtergreifung Hitlers und 15 Jahre vor der Reichskristallnacht und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Klare Hinwendung an Europa
Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hatte das Ziel vorgegeben, die Türkei auf das Niveau zeitgenössischer Zivilisationen zu heben. Um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wurden das Kalifat mit dem Schutt des Osmanischen Reichs entsorgt, das lateinische Alphabet eingeführt, Türkinnen mit dem aktiven und passiven Wahlrecht ausgestattet und der Laizismus verankert. 1949 - noch in seinem Gründungsjahr - trat die Türkei zum Europarat bei, gründete die OECD mit und wurde 1952 NATO-Mitglied.
Was die Türkei braucht, sind Ehrlichkeit und das Rückgrat derjenigen Verantwortlichen von heute, deren Vorgänger vor allem seit der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens von 1963 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion mit ihren Satelliten der Türkei zugesichert hatten, dass sie unter Erfüllung von bestimmten Bedingungen in die Wertefamilie Europas aufgenommen wird. Die Türkei hat weiterhin gemeinsame Ziele mit Europa, nämlich die Überbrückung von Gräben zwischen Kulturen und Religionen, zwischen Völkern und politischen Systemen.
Die Türkei und ihre Menschen, deren Vorfahren 1492 Spaniens Juden vor der Inquisition gerettet und während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Menschen aus Deutschland unabhängig von ihrem Glauben oder ihrem Status Zuflucht geboten haben, gehören zu Europa. Diese Aussage, die Adenauer, Hallstein, von Weizsäcker, Kohl oder Jenninger gemacht haben, überwiegt alle Argumente gegen eine weitere Anbindung der Türkei an Werte und Ziele Europas. Wenn Deutschland und Europa heute mehr Gewicht in der Weltpolitik spielen und mehr Verantwortung als "global player" übernehmen wollen, ist die Türkei ein Prüfstein.
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Privilegierte Heranführung statt privilegierte Partnerschaft
Wer heute in Deutschland oder in Europa noch wie der Kleinbürger aus Goethes Faust abends "froh nach Haus" kommen und "Fried und Friedenszeiten" segnen will, braucht eine an Europa orientierte Türkei, in der keine "Völker aufeinander schlagen".
Um das zu erreichen, wäre vielleicht das Angebot einer privilegierten Heranführung der Türkei an Europa statt einer bloßen privilegierten Partnerschaft, die die Türkei ja schon auf vielen Gebieten besitzt, verständlicher. Nach meiner Meinung als deutscher Staatsbürger seit 1978 - und das aus Überzeugung ohne Doppelpass – wäre das gleichzeitig auch eine Anerkennung der überwiegenden Mehrheit der türkischstämmigen Menschen in Deutschland in dritter und bald in vierter Generation als ebenbürtige Mitbürger.
Dann endlich könnte den Kindern und Enkelkindern Deutschland eine Heimat bieten, nachdem ihren Vorfahren nach Muskelkraft, Ausdauer und psychische wie physische Belastbarkeit unter extremen Arbeitsbedingungen schon nach Bagatelldelikten die Ausweisung wegen "Verwurzelungsgefahr" drohte.
Wir brauchen keine neuen Mauern
Nehmen Sie den Deutschen die Angst vor der Türkei und den Türken. Damit würden Sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens würden Sie Spannungen zwischen Deutschen und Türken in Deutschland abbauen und Parallelgesellschaften einen Riegel vorschieben, in die Menschen flüchten, wenn sie sich von Deutschen unverstanden oder gar zweitrangig behandelt und betrachtet fühlen. Zweitens würden Sie auch die Festigung und Verankerung der europäischen Werte in der Türkei beitragen. Damit wäre Deutschland, das Ihnen anvertraut wird, in der Lage, aktiv zum Abbau von Spannungen in einer konfliktträchtigen Region beizutragen.
Staatsmänner wie Adenauer und de Gaulle haben historische Feindschaften überwunden und das Fundament einer friedlichen Zukunft in Europa geschaffen. Für Sie ist die Türkei die Chance, mit Deutschland und Europa einen historischen Sprung in Richtung mehr Frieden und bessere Zukunft in und für Europa zu schaffen – auch um der ureigenen Interessen Deutschlands und Europas Willen. Bauen Sie keine neuen Mauern, nachdem sie diejenigen umgestürzt haben, die Nationen und Länder geteilt hatten.
Mit freundlichen Grüßen
Baha Güngör
Baha Güngör (geboren 1950 in Istanbul) ist seit 1999 Leiter der türkischen Radioredaktion der Deutschen Welle und Autor des Buches "Die Angst der Deutschen vor den Türken und ihrem Beitritt zur EU"