Festgefahrene Post-Brexit-Verhandlungen
5. Juni 2020EU-Verhandlungsführer Michel Barnier ist frustriert. So sehr, dass er sich sogar in Sarkasmus versucht. Boris Johnson selbst habe die Politische Erklärung unterschrieben, in der beide Seiten sich ein umfassendes Abkommen über ihr künftiges Verhältnis versprechen. "Es gibt sie in allen Sprachen, auch in Englisch…". Der französische Diplomat wirft den Briten vor, dass sie gemachte Zusagen nicht einhalten und man auf der Basis die Differenzen nicht überbrücken könne.
Keine Annäherung aber weitere Gespräche
Im Detail macht Barnier einmal mehr klar, dass für ihn und die EU-Regierungschefs, die ihn beauftragt haben, die Politische Erklärung vom vorigen Jahr Basis der Verhandlungen ist. In Paragraf 77 zum Beispiel sei festgelegt, dass es keine Verzerrungen beim künftigen Wettbewerb zwischen Großbritannien und der EU geben solle. Deswegen hätte sich Großbritannien verpflichtet, die geltenden hohen Standards einzuhalten. Sie werden unter der Überschrift "level plaing field", fairer Wettbewerb, zusammengefasst.
Barnier nennt auch die nukleare Sicherheit, Regeln gegen Geldwäsche, die Fischerei oder die Außenpolitik, wo es keine Annäherung der Positionen gebe. "Dies ist der Moment der Wahrheit und wir erwarten, dass Großbritannien seine Verpflichtungen erfüllt", sagt der EU-Diplomat. Jetzt warte man auf ein Gipfeltreffen zwischen Boris Johnson und den EU-Spitzen, ob politische Bewegung möglich sei.
Was die mögliche Verlängerung angeht, betont Barnier, sei die Tür weiter offen. Aber er weiß, dass London wohl bei seiner Weigerung bleiben will. Dennoch will er wenn möglich schon Anfang Juli weiter verhandeln: "Wir können in den nächsten Monaten noch Gemeinsamkeit und am Ende eine Einigung finden". Letztes mögliches Datum sei allerdings der 31. Oktober, damit das Abkommen wenigstens vom europäischen Parlament ratifiziert werden könne.
Staatshilfe und andere Themen
Besonders krass sind die Meinungsverschiedenheiten beim Thema Staatshilfen. Die EU hat dafür strenge Regeln, an die sie die Briten binden will, um "Wettbewerbsverzerrungen" zu verhindern, wie Barnier ausführt. Das ist keine technokratische Frage, erklärt dazu der EU-Verhandlungsführer, dabei geht es um Fair Play. Man wolle auf jeden Fall Dumping verhindern. Diese Regeln sind tatsächlich einer der sensibelsten Punkte des Welthandels und sorgen für endlosen Streit. Die Europäer wollen keine neue Front mit Großbritannien, sondern Vorschriften, die den Briten hier die Hände binden.
Auch bei der Fischerei sind die Gespräche aus EU-Sicht festgefahren. Jedes Jahr neue Quoten und Fischgründe auszuhandeln hält sie für unerträglich. Man brauche mittelfristige Sicherheit. Und Barnier wiederholt die bekannte Drohung: "Keine Einigung bei Fisch bedeutet kein Handelsabkommen". Für manche Mitgliedsländer sei die Fischerei eben wichtig. Dazu gehört etwa Frankreich.
Wichtiger Moment
"Wir sind jetzt an einem wichtigen Moment für diese Gespräche", erklärt der britische Unterhändler David Frost seinerseits. Man habe quasi die Grenzen dessen erreicht, was man in den digitalen formellen Runden erreichen könne. Und auch er sagt, dass der Fortschritt begrenzt sei. Was bedeutet, dass es keinen gibt. Wenn man ein Abkommen wolle, müsse man die Arbeit beschleunigen und intensivieren.
Wobei das bisherige Tempo gemessen an anderen Handelsverträgen nicht langsam war. Denn die technischen Details sind komplex und jeder Schritt muss rechtlich abgesichert werden. Andererseits räumen beide Seiten ein, dass die Kommunikation per Internet ein Hindernis war, weil sie den persönlichen Kontakt am Rande und das nicht-öffentliche Ausloten von Kompromissen unmöglich macht.
Auch Frost spricht von einem Abkommen bis Ende des Jahres, damit die Wirtschaft Sicherheit bekomme. Aber er fügt hinzu: "Ein solches Abkommen muss natürlich die Realität der fest eingeführten Position Großbritanniens zum 'level playing field', zur Fischerei und zu den anderen schwierigen Themen in Betracht ziehen". Damit fordert Frost wiederum die EU auf, die britischen Forderungen zu erfüllen.
Wie geht es weiter?
Alles steht und fällt jetzt mit dem Gespräch zwischen Boris Johnson und Ursula von der Leyen, das, immer noch per Video, nächste Woche stattfinden soll. Die Kommissionspräsidentin hat bisher keinen Auftrag, die EU-Position aufzuweichen. Aber wird Johnson eine gewisse Kompromissbereitschaft signalisieren? Bisher gibt es dafür noch keine Anzeichen.
Die EU scheint dennoch bereit, weiter zu reden. Wie schon bei den Austrittsverhandlungen will man vermeiden, die Schuld für ein Scheitern zugeschoben zu bekommen. Und sogar Michel Barnier räumte ein, dass eine Einigung - wenn überhaupt - auch diese Mal vermutlich nur in letzter Minute zu erreichen sei.
Erste Reaktionen aus dem Europaparlament zeigen die Frustration in Brüssel. Anna Cavazzini nennt die Verhandlungsführung des britischen Premierministers "wenig vertrauenswürdig". Sie sei eine Erpressungsstrategie, die darauf beruhe "die EU durch Verzögern, Blockieren und dem Beharren auf unmöglichen Positionen mit einem drohenden No-Deal-Szenario zum Einlenken zu bringen". Die Europäer dürften da nicht nachgeben.
Droht ein ungeordneter Brexit?
Ein No-Deal-Brexit aber wäre angesichts der "schweren ökonomischen Verwerfungen durch die Corona-Krise unverantwortlich", betont die Handelsexpertin der Grünen. Außerdem wäre es ein gefährliches Kalkül " sollte Johnson darauf hoffen, die ökonomischen Folgen eines ungeordneten Brexits mit den ohnehin schwerwiegenden Corona-Folgen verrechnen zu können". Trotzdem müsse die EU jetzt ihre Vorbereitungen für diesen Fall verstärken.
"Ein Durchbruch sieht anders aus. Wenn das Vereinigte Königreich seine sture Verhandlungsposition nicht langsam anpasst, wird kein Abkommen zustande kommen", erklärt der EVP-Abgeordnete Markus Ferber. Man bekomme den Eindruck, dass die Briten auf ein Platzen der Verhandlungen hinarbeiten würden. Johnson müsse bei seinem anstehenden Gespräch mit den EU-Spitzen "ein echtes Angebot mitbringen. Andernfalls befinden wir uns in einer Sackgasse."
Und die Kritik vom Bund der Deutschen Industrie ist scharf: "Der Ärger in den Betrieben über den mangelnden Fortschritt wächst", erklärt Geschäftsführer Joachim Lang. Wenn London kein Zeichen gebe, dass die Regierung sich in wesentlichen Fragen bewegen werde, würden die Unternehmen einem harten Brexit gegenüberstehen. Der Industrievertreter nennt es darüber hinaus "unverantwortlich", die Fristverlängerung abzulehnen. "Ein Scheitern der Verhandlungen wäre ein Destaster auf beiden Seiten des Ärmelkanals".