Politisierte Prozesse gegen Muslimbrüder
6. Dezember 2013Mehr als 2000 Gefangene, Dutzende Angeklagte und Vorwürfe, die von Korruption über Mordaufruf bis zu Landesverrat reichen: Der ägyptischen Muslimbruderschaft steht die größte Prozesswelle in ihrer 85-jährigen Geschichte bevor. Bereits im Herbst ordnete ein Gericht in Kairo die Auflösung der islamistischen Organisation an. Nun geht der Staat gegen die ehemalige Führung der Muslimbruderschaft vor.
Das Oberhaupt der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie, Chefstratege Chairat al-Schater sowie weitere Angeklagte hätten sich bereits Anfang November vor dem Kairoer Gerichtshof (Artikelbild) verantworten sollen. Doch die Richter hatten sich wegen Befangenheit aus dem Verfahren zurückgezogen. Der Prozess soll nun am Montag (09.12.2013) beginnen.
Verschwörung und Gewalt
Zahlreichen Mitgliedern der Muslimbruderschaft werden Aufrufe zur Gewalt und illegaler Waffenbesitz vorgeworfen. Beobachter rechnen insgesamt mit mindestens einem Dutzend Gerichtsverfahren und einer dreistelligen Zahl von Angeklagten. Vielen könnte bei einer Verurteilung die Todesstrafe drohen.
In der Bevölkerung geht die Angst um, dass die Gerichtsverfahren zu neuen blutigen Ausschreitungen zwischen Anhängern der Muslimbrüder und Sicherheitskräften führen könnten. Dennoch hält der Politologe Hassan Abu Taleb vom regierungsnahen Forschungsinstitut Al-Ahram-Zentrum es für wichtig, an den Terminen für die Prozesse festzuhalten: "Sollte sich der Staat dazu entscheiden, solche Prozesse zu stoppen, würde dies bedeuten, dass die Muslimbruderschaft mit ihrer erpresserischen Taktik Erfolg hat. Es wäre ein klares Anzeichen dafür, dass die Regierung sehr schwach ist."
Politische Prozesse befürchtet
Anhänger der Muslimbruderschaft warnen hingegen vor Schauprozessen - eine Einschätzung, die auch viele Menschenrechtler am Nil teilen. Kritisiert werden nicht nur die Anklagepunkte, welche darauf abzielen, die Muslimbruderschaft als internationale Terrororganisation abzustempeln. Auch der unzureichende Rechtsbeistand für die Angeklagten wird bemängelt. Ein Anwalt, der den ehemaligen Präsidenten Mohammed Mursi verteidigen sollte, floh nach Drohungen ins Ausland. Mehrere weitere Anwälte aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft sitzen hinter Gittern. Auch deshalb weigern sich prominente Angeklagte, bei den Verhören zu kooperieren.
Bei den Prozessen gegen die Muslimbrüder ist die Zahl der Angeklagten höher als bei den Verfahren gegen Anhänger des Regimes von Husni Mubarak. Auch die Vorwürfe sind größer. Dies lässt Beobachter vermuten, dass die Prozesse in erster Linie politischen Zwecken dienen: der Menschenrechtsanwalt Ahmed Usman aus Kairo sieht sie als juristische Fortsetzung des Machtkampfes zwischen Islamisten und Armee: "Zu einem großen Teil geht es bei dem Prozess um Rache. Es geht um eine Gruppierung, die an die Macht will, und eine zweite Gruppierung, die versucht, die andere zu zerstören."
Rufe nach Übergangsjustiz
Gegner wie Befürworter der Muslimbruderschaft sind sich indes einig, dass die Prozesse keinen nennenswerten Beitrag zu einer möglichen Versöhnung der verfeindeten politischen Lager leisten können. Aktivisten drängen deshalb seit langer Zeit darauf, eine Übergangsjustiz nach dem Vorbild lateinamerikanischer Staaten zu schaffen. Diese solle sich um eine unabhängige Aufarbeitung der Verbrechen während der Mubarak-Ära, der Militärherrschaft und des Mursi-Regimes kümmern.
Hassan Abu Taleb, ein Befürworter eines solchen Modells, erklärt: "Diese Kommission sollte dafür verantwortlich sein, ein spezielles Gesetz auszuarbeiten und zu erlassen. In diesem sollten Schritte festgelegt werden, um einen Versöhnungsprozess in der Gesellschaft in Gang zu bringen." Die neue Regierung rief im Juli zwar ein Ministerium für Übergangsjustiz und nationale Versöhnung ins Leben. Dessen Aufgaben wurden bisher aber nicht definiert.