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Politik

Polens graue Eminenz

Gerhard Gnauck
24. Oktober 2016

Jarosław Kaczyński ist der mächtigste Mann in Polen - obwohl er weder Präsident noch Regierungschef ist. Vor einem Jahr gewann seine national-konservative Partei die Wahlen. Heute ist das Land gespaltener als zuvor.

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Polen Warschau Parlament Jaroslaw Kaczynski
Bild: picture-alliance/NurPhoto/M. Wlodarczyk

Polen ist immer für Überraschungen gut. Mit den Kaczyński-Brüdern verbinden sich gleich drei ungewöhnliche Ereignisse: Vor zehn Jahren wurden mit Lech und Jarosław Zwillinge gleichzeitig Staatspräsident und Regierungschef. Vier Jahre später stürzten Präsident Kaczyński und 95 seiner Landsleute auf einer Reise nach Russland mit dem Flugzeug ab. 

Weitere fünf Jahre später gelang es Jarosław Kaczyński, dem Parteichef von "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), nach einer Wahl zum mächtigsten Mann des Landes zu werden, ohne als Spitzenkandidat angetreten zu sein - diese Rolle überließ er Beata Szydło, einer bis dahin wenig bekannten und treuen Parteisoldatin an seiner Seite. Ein Parteitag bestätigte ihn im Juli mit gut 99 Prozent der Stimmen im Amt des Parteichefs. Dass es auch einige Gegenstimmen gab, kommentierte er lachend mit den Worten: "Das beweist, dass wir in der Partei auch eine Art von Demokratie haben." 

Warschau Polen Beata Szydlo Jaroslaw Kaczynski, Parlamentssitzung
Regierungschefin Szydlo - und ihr Chef KaczynskiBild: Imago/Forum

So ist er heute die graue Eminenz hinter der Regierung. Wichtige Entscheidungen werden nicht ohne ihn getroffen. Schon 2015 sorgte er dafür, dass überall dort, wo "Falken" und "Tauben" für Ministerämter zur Verfügung standen, die "Falken" ins Amt kamen. Wenn heute wichtige Posten besetzt werden, etwa der des Fernsehchefs, pilgern die Kandidaten nicht zum Regierungssitz, sondern in die PiS-Parteizentrale, in ein Bürogebäude in der Warschauer Nowogrodzka-Straße. Neuerdings pilgern auch Demonstranten zur Parteizentrale, um gegen seine Politik zu protestieren. Doch der Parteichef lässt sich dann nicht blicken.

Härte und raues Charisma

Wie hat sich Jarosław Kaczyński, den man oft für politisch tot erklärt hatte, diese Stellung erkämpft? Er ist kein guter Redner, er schmeichelt nicht, er hält Gesprächspartner gern auf Distanz. Er führt ein zurückgezogenes Dasein als Junggeselle. Aber seine Härte und sein raues Charisma beeindrucken seine Mitstreiter und Wähler.

Als Kaczyński durch den Flugzeugabsturz seinen Bruder verlor, seine wichtigste Bezugsperson, noch dazu viele Parteifreunde, weinten viele seiner Mitstreiter. Er weinte nicht, zumindest nicht öffentlich. Kaczyński zeigte sich hart, handelte kühl, reiste sofort an den Ort der Katastrophe. Als Putin ihm dort sein Beileid aussprechen wollte, verweigerte der Politiker das Gespräch. Später erzählte einer seiner politischen Freunde, wie hilfreich es gewesen sei, damals, als ganz Polen unter Schock stand, so eine "starke Führungsfigur" zu haben.

Wird Kaczyński Regierungschef?

Dieser starke Parteichef wusste gut, dass er zwar seine national, konservativ und zumeist auch katholisch geprägte Stammwählerschaft mobilisieren kann, beim Rest der Bevölkerung jedoch auf Misstrauen stößt. Daher schob er die gemäßigtere Beata Szydło vor, der es vor einem Jahr tatsächlich gelang, die Parlamentswahlen zu gewinnen. Fünf Monate zuvor hatte bereits der von Kaczyński ausgewählte Kandidat Andrzej Duda die Präsidentenwahl gewonnen. 

Heute rätseln Polens Medien, wie viel Spielraum Duda tatsächlich hat und wie lange Szydło noch im Amt bleibt. Sie müsse sich "bewähren", hatte der Parteichef gesagt. Ein hoher PiS-Politiker verrät im Gespräch: "Für Kaczyński wirken die Kompetenzstreitigkeiten in der Regierung wie Chaos, er überlegt ernsthaft, ob er nicht selbst Regierungschef werden soll."

Loyalität schlägt Kompetenz

In diesem Jahr hat sich Polen erheblich verändert. Kaczyński intonierte auf einer Demonstration einen Sprechchor, wonach seine Gegner "Kommunisten und Diebe" seien. Er glaubt, ein Filz aus Postkommunisten und Liberalen beherrsche das Land. Um diesen bekämpfen zu können, hat die Regierung einen Dauerkonflikt mit dem Verfassungsgericht begonnen, dessen Unabhängigkeit sie nicht respektiert. Die EU-Kommission hat ein Verfahren zur Bewertung der Rechtsstaatlichkeit in Polen begonnen.

Die Regierung versucht auch, die öffentlich-rechtlichen Medien auf den "neuen Kurs" zu bringen. Sie propagiert den "Austausch der Eliten" und schätzt Loyalität mehr als Kompetenz, weshalb Parteifreunde ohne eine entsprechende Qualifikation in hohe Ämter gebracht werden.

Polen Jahrestag der Flugzeugkatastrophe bei Smolensk
Die Flugzeugkatastrophe von Smolensk ist eines der Schlüsselereignisse für Jaroslaw KaczynskiBild: picture-alliance/dpa/J. Kaminski

Auch der außenpolitische Kurs wird jetzt in Warschau neu bestimmt. Kaczyński, der in den letzten 30 Jahren kaum ins Ausland reiste, ist ein Euroskeptiker: "Es stellt sich die Frage, ob die EU mit ihrer schrecklichen Bürokratie in dieser Gestalt überdauern kann. Ich glaube es nicht", sagte er kürzlich. Er sei zwar weiterhin für die EU, aber doch vor allem für die Zusammenarbeit mit Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Kritiker fragen, warum Warschau ausgerechnet die großen Partner in Europa - Deutschland und Frankreich - immer wieder vor den Kopf stößt. Der zentrale Partner für Polen bleiben die USA, aber über demokratische Sitten möchte man sich auch von Washington nicht belehren lassen.

"Polen ist wieder wer"

Unter der Aufsicht Kaczyńskis betreibt die Regierung eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik. Mit einem riesigen Investitionsprogramm will man Polen helfen, die Rolle als "verlängerte Werkbank des Westens" zu überwinden. Das neue Kindergeld, mit etwa 120 Euro im Monat für polnische Verhältnisse recht hoch, und ein Wohnungsbauprogramm sollen ärmere Familien unterstützen. Aber Kaczyński will mehr: die kulturelle Hegemonie. Er will den aus dem Westen kommenden Wertewandel bremsen. Auch soll den Polen mehr "nationaler Stolz" vermittelt werden. Polen "ist wieder wer", so etwa lautet die Botschaft. Und das Land wolle noch hoch hinaus. Probleme für den Staatshaushalt dürften erst später auftreten.

Dagegen dürfte das Gefährlichste an der PiS-Herrschaft die Polarisierung sein, die Dämonisierung der politischen Gegner. Der Versuch einer rechten Bürgerinitiative, das strenge Abtreibungsrecht weiter zu verschärfen, hat allerdings zu heftigen Protesten vor allem von Frauen geführt. Daraufhin hat Kaczyński seine Fraktion zurückgepfiffen und den Gesetzentwurf scheitern lassen.

Alles in allem ist die PiS - wie ihr Vorsitzender - in hohem Maße konfliktfreudig. Der noch nicht beendete Abtreibungsstreit, aber auch die zunehmende Vetternwirtschaft sind jedoch zwei Punkte, an denen sich die PiS verrechnen könnte. Beide Themen könnten mehr Unmut auslösen, als es die Partei und ihr Anführer erwartet haben.