Polen vor EU-Dilemma
12. Oktober 2021Die Polen, seit Jahrhunderten an der Schnittstelle zwischen Ost und West, sind eine von Europa begeisterte Nation. Der Westen war für die meisten Einwohner des Landes auch in den schlimmsten Zeiten kommunistischer Herrschaft ein Bezugspunkt und Traumziel. Die Zugehörigkeit zur sowjetischen Einflusszone nach 1945 wurde immer als künstliche Trennung von den politischen und kulturellen Wurzeln empfunden. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 wurde daher als eine "Rückkehr nach Europa"gefeiert.
Die pro-europäische Politik aller Regierungen nach der demokratischen Wende fand breite Unterstützung in der polnischen Gesellschaft. 2003 sprachen sich im Referendum drei Viertel der Polen (77,45 Prozent) für den EU-Beitritt ihres Landes aus. Anti-europäische Kräfte am rechten Rand versuchten schon damals Angst zu verbreiten, indem sie etwa den Zusammenbruch der polnischen Landwirtschaft nach Öffnung des Agrarmarkts an die Wand malten - ohne Erfolg.
EU bleibt sehr populär
Der hohe Anteil der EU-Befürworter ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur nicht geschrumpft, sondern hat sich sogar erhöht. In einer Umfrage des Instituts IPSOS für die polnische Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" und das Internetportal OKO.press vom 5.10.2021 sprachen sich 88 Prozent der Befragten für den Verbleib in der europäischen Gemeinschaft aus. Das Ergebnis bestätigt den Trend in früheren Umfragen.
Unter dem Motto "Wir bleiben in Europa" gingen zuletzt am Sonntag (10.10.2021) allein in Warschau fast 100.000 Menschen auf die Straße. In ganz Polen demonstrierten mehr Menschen als bei früheren Protesten gegen das Abtreibungsverbot oder die Einschränkung der Unabhängigkeit der Gerichte. Die hohe Beteiligung an den Demonstrationen zeigt, dass die proeuropäischen Kräfte stark sind und keinesfalls nachgeben wollen.
Doch die Kernfrage bleibt: Kann das in Polen regierende rechte Bündnis - die Vereinigte Rechte, deren Kern die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Vize-Ministerpräsident Jarosław Kaczyński bildet - das Land trotzdem aus der EU führen? Die polnischen Nationalkonservativen scheuen keine Mühe, um das zu dementieren. Der Vorwurf, die Regierung strebe einen "Polexit" an, sei eine böse Unterstellung, mit der die Opposition Propaganda gegen die PiS betreibe, sagen sie. Um diesen Standpunkt zu untermauern, verabschiedete die Parteiführung Mitte September einen Beschluss, in dem ein Austritt aus der EU ausgeschlossen wird.
Austritt wäre für die Rechte Selbstmord
Die polnische Rechte weiß, dass eine offene Ablehnung der EU einem politischen Selbstmord gleichkäme. Gleichzeitig wächst aber die Zahl der Konflikte mit Brüssel, wobei der Streit um die Rechtsstaatlichkeit mit dem jüngsten Urteil des polnischen Verfassungsgerichts einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat.
Die Taktik des Regierungslagers besteht darin, Polen als "wahres Europa" darzustellen und Westeuropa als einen Hort des Bösen anzuprangern, als ein linkes, neomarxistisches Gebilde, das sich mit Homo-Ehen auf einem Irrweg befindet. Nach diesem Narrativ soll Polen mit seinem katholischen Glauben sowie mit traditioneller Ehe und Familie den alten Kontinent vor dem Verderben retten. Das strategische Ziel ist das "Europa der Vaterländer" nach dem Vorbild der 50-er und 60-er Jahre, als Konrad Adenauer und Charles de Gaulle das Sagen hatten.
"Nach langem Zögern hat sich die Führung der Regierungspartei für eine Konfrontation (mit Brüssel - Anm. d. Red.) entschieden", schreibt Justyna Dobrosz-Oracz in der "Gazeta Wyborcza" (11.10.2021). Die PiS sei überzeugt gewesen, dass sie der Europäischen Kommission auf der Nase herumtanzen könne und sei jetzt gegen die Wand gefahren. "Die Entschlossenheit Brüssels hat die Regierenden unangenehm überrascht", meint die polnische Journalistin. Mehrere PiS-Politiker hätten öffentlich gesagt, dass Polen das Geld aus dem Corona-Aufbaufonds eigentlich nicht brauche. In Wirklichkeit sei die Partei aber in Panik, so Dobrosz-Oracz.
Anti-europäische Rhetorik - ernst oder nur ein Manöver?
Ein Teil der Kommentatoren betrachtet die anti-europäische Rhetorik als ein taktisches Manöver, um den rechten Rand der Vereinigten Rechten, vor allen die Partei Solidarisches Polen des Justizministers Zbigniew Ziobro, zu besänftigen. Andere warnen davor, dass Polen wie Großbritannien ungewollt außerhalb der EU geraten könnte.
Die jüngsten Sonntagsdemonstrationen in Polen haben gezeigt, dass Donald Tusk ein großes Mobilisierungspotenzial hat. Der Politiker, der die letzten sechs Jahre in Brüssel - unter anderem als Chef des Europäischen Rates - verbracht hat, versucht seit diesem Sommer mit eiserner Hand seine Partei Bürgerplattform (PO) wieder fit fürs Regieren zu machen. Die Umfragen zeigen, dass eine vereinigte Opposition bei der Parlamentswahl die PiS schlagen könnte.
Opposition uneinig
Das Problem der demokratischen Opposition ist aber ihre Uneinigkeit. Auf dem Schlossplatz in Warschau fehlten am Sonntag die Führungsfiguren anderer oppositioneller Parteien. Tusks Anspruch auf die Rolle des Oppositionsführers wird in Frage gestellt. Persönliche Ambitionen scheinen stärker zu sein als die Abneigung gegen die PiS. Gewählt werden soll in Polen erst 2023, aber viele Beobachter halten vorgezogene Parlamentswahlen im nächsten Frühjahr nicht für ausgeschlossen.
Warum aber haben 2015 europabegeisterte Polen eine Partei gewählt, die der EU skeptisch, wenn nicht unversöhnlich gegenüber steht? Und warum gaben sie vor zwei Jahren den Nationalkonservativen erneut ein Mandat zum Regieren? Die EU-Mitgliedschaft wird von den meisten Polen als selbstverständlich betrachtet. Entscheidend beim Urnengang waren andere Themen, vor allem die Sozial- und Identitätspolitik.
"Letztlich bleibt aber eine große Gruppe der Polen politisch eher inaktiv und unreflektiert - sie unterstützt die EU, genießt die sozialen Wohltaten der PiS und freut sich, dass sie problemlos billig Urlaub in Kroatien machen kann. Um diese Gruppe dreht sich der unaufhörliche politische Kampf in Polen", fasst Agnieszka Łada zusammen, Vize-Direktorin des Think Tanks Deutsches Polen-Institut in Darmstadt. Man darf gespannt sein, wie dieser Kampf bei den nächsten Wahlen ausgeht.