Gnadenlose Aufarbeitung
25. Mai 2009Frühling 1989: Zum ersten Mal sind Kommunisten in einem Ostblockland gezwungen, mit Oppositionellen über die Zukunft zu verhandeln. Der "Runde Tisch", der zu demokratischen Wahlen führt, ist eine Premiere im kommunistischen Europa. Im Juni 1989 bildet Tadeusz Mazowiecki, ein Oppositioneller, die Regierung. Doch die friedliche Revolution in Polen leidet unter einem gravierenden Schönheitsfehler: Kommunisten und Opposition hatten sich schon am "Runden Tisch" darauf verständigt, die Macht zu teilen. Die polnische Gesellschaft ist zu diesem Zeitpunkt müde, aber auch froh über das friedliche Ende der kommunistischen Alleinherrschaft.
So viele Akten vernichten wie möglich
Während sich die neue Regierung konstituiert, laufen in den Archiven der polnischen Sicherheitsdienste die Reißwölfe auf Hochtouren. Trotz aller gegenteiligen Bekundungen werden viele Akten von Kommunisten zerstört. Die Opposition sei zu leichtgläubig gewesen, vermutet der Direktor des Instituts des Nationalgedenkens, Janusz Kurtyka: "Der erste Irrtum der Opposition war, zu denken, dass man die alten kommunistischen Kader nach 1989 unter Kontrolle haben könnte. Und die zweite Illusion war, zu glauben, dass damals eine richtige Wende zu einem völlig neuen System stattfand. Für diesen doppelten Irrtum, zahlt Polen bis heute", sagt Janusz Kurtyka.
Polnische Akten verschwinden, während die Stasi-Archive der DDR von der Bevölkerung besetzt und die Akten sichergestellt werden. Die Historikerin Ewa Zajac hat diese Strategie analysiert: "Ich denke, dass die Gesellschaft in eine Art Schlaf versetzt wurde. Es war die Rede von einem 'Schlussstrich' mit der kommunistischen Vergangenheit - und damit konnte keine Abrechnung mit der Vergangenheit beginnen." Anfang der 1990er-Jahre habe die Gesellschaft darauf vertraut, dass die Demokraten an der Macht das Schlimmste verhindern könnten. Es sei aber anders gekommen, da sie die Ex-Kommunisten unterschätzt hätten. "Dadurch konnte vieles verwischt werden. Die Oppositionellen waren mit der neuen Rolle offensichtlich überfordert", sagt die Historikerin.
Mysteriöse Todesfälle
Heute schätzt man vorsichtig, dass landesweit etwa 30 Prozent der Unterlagen zerstört sein könnten. In manchen Regionen ist sogar von weit höheren Verlusten die Rede, zum Beispiel in Krakau. Von 45.000 Personen-Akten ist nur ein Fünftel erhalten, von 17.000 dokumentierten Verfahren etwa die Hälfte.
Als erste werden nach der Wende die Akten über die katholische Kirche zerstört, die besonders intensiv vom Geheimdienst beobachtet wurde. In den 1980er-Jahren kommt es sogar zu mehreren mysteriösen Todesfällen unter oppositionellen Geistlichen, der bekannteste von ihnen ist der Priester Jan Popieluszko. Viele polnische Historiker glauben, dass es sich um politische Morde im Auftrag der Kommunisten handelt. Beweisen lässt sich kaum etwas, weil die brisantesten Akten als erste in den Reißwölfen landen. "Wir wissen, dass ein Großteil dieser Akten vor der Zerstörung auf Mikrofilmen dokumentiert wurde und die Kopien in den Moskauern Archiven landeten. Leider sind unsere eigenen Akten zerstört und niemand von uns hat einen Zugang zu ihnen", sagt der Historiker Henryk Glebocki.
Aufarbeitung beginnt erst nach langem Streit
Bis sich das ändert, dürften noch viele Jahrzehnte vergehen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit in Polen ist aber auch deshalb schwer, weil über den Zugang zu den Geheimdienst-Akten lange politisch gestritten wird. Erst 1999, zehn Jahre nach der Wende, verabschiedet der Sejm, das Unterhaus des polnischen Parlaments, ein Gesetz. Im Jahr 2000 werden die kommunistischen Archive dem neu gegründeten Institut des Nationalen Gedenkens übergeben und erst seitdem sind sie auch den Opfern zugänglich. Der Direktor des Instituts Janusz Kurtyka erklärt: "Wir dürfen nicht vergessen, dass die postkommunistische Partei in Polen noch bis 2005/2006 eine große politische Macht war. Erst seit wenigen Jahren ist sie eingebrochen." Im Vergleich dazu hätten in Deutschland die Postkommunisten nie mitregiert. "Als wir mit der Aufarbeitung begonnen haben, hat man in Ostdeutschland schon zehn Jahre Erfahrung gesammelt."
Umso gnadenloser geht man nun an die Aufarbeitung. Der Prozess scheint in Polen willkürlicher als in anderen Ländern zu sein und spielt sich großenteils in der Öffentlichkeit ab. Das Institut des Nationalen Gedenkens ist zum Beispiel seit zwei Jahren per Gesetz verpflichtet, Listen zu veröffentlichen, auf denen über die Vergangenheit von zigtausend Personen des Öffentlichen Lebens informiert wird. "Wir sind verpflichtet mitzuteilen, in welcher Rolle diese Personen in den Akten auftauchen", erläutert Janusz Kurtyka.
"Akten werden für politische Machtspiele missbraucht"
Das Gesetz über den Umgang mit den Akten ist in Polen mehrfach novelliert worden, was den Akten-Zugang weiter erleichtert. Die späte Abrechnung mit der Vergangenheit trägt jedoch manchmal auch seltsame Früchte. So tauchen immer wieder Bücher über die angebliche Zusammenarbeit wichtiger Oppositionsführer und Politiker mit den Geheimdiensten auf, wie zuletzt über Lech Walesa. Die Historikerin Ewa Zajac meint: "Die Akten werden immer noch in politischen Machtspielen missbraucht. Dadurch gibt es keine Klarheit, sondern ziemlich viel Chaos in den Köpfen der Menschen."
Die Vergangenheitsbewältigung hat in Polen mit zehn Jahren Verspätung begonnen, und ihre Wellen schlagen noch immer sehr hoch. Die Gesellschaft scheint gespalten zu sein: Laut einer aktuellen Umfrage ist ungefähr die Hälfte für und die Hälfte gegen weitere Veröffentlichungen von Akten.
Autorin: Rozalia Romaniec
Redaktion: Sandra Voglreiter