Plädoyers im Fall Tugce
12. Juni 2015Am frühen Nachmittag erhebt der Angeklagte doch noch seine Stimme: "Egal, was hier dabei rauskommt, ich muss damit leben, dass wegen mir ein Mensch tot ist", sagt Sanel M. merklich berührt. "Der Schlag war der schlimmste Fehler meines Lebens. Es tut mir unendlich leid". Bis dato hatten die Prozessbeteiligten seine Stimme nur einmal gehört: Als er zu Prozessbeginn im April einräumte, die damals 22-Jährige Studentin Tugce Albayrak auf dem Parkplatz eines Offenbacher Schnellrestaurants geohrfeigt zu haben. Daraufhin war Tugce umgefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen, sodass sie aufgrund der dabei erlittenen Hirnverletzungen ins Koma fiel. An ihrem 23. Geburtstag ließen die Eltern die Maschinen abstellen, die ihre einzige Tochter am Leben erhalten hatten.
Tragisches Ende einer Partynacht
An Prozesstag neun haben Staatsanwaltschaft, Nebenklagevertreter und Verteidigung vor dem Darmstädter Landgericht ihre Plädoyers gehalten und versucht, ein Durcheinander von Zeugenaussagen und Videosequenzen so zu entwirren, dass ein Bild davon herauskommt, was nach einer Partynacht im November 2014 in Offenbach geschah.
Oberstaatsanwalt Alexander Homm spricht in seinem Schlussvortrag von einer "Nacht, die banal begann" und mit dem Tod Tugces endete. Gegen vier Uhr morgens, nachdem der Angeklagte seinen 18. Geburtstag nachgefeiert hatte, war er mit Tugce aneinandergeraten. Der Schlag, den M. gestanden hatte, war von Überwachungskameras aufgezeichnet worden. "Die Rollen waren schnell verteilt“, nimmt Homm in seinem Schlussvortrag Bezug auf das Ausmaß, das das Geschehen um Tugce in einigen Medien und den sozialen Netzwerken daraufhin bekommen hatte. Tugce, als ein Musterbeispiel an Zivilcourage gefeiert, habe sich demnach Sanel, dem Schläger, entgegengestellt und dafür mit ihrem Leben bezahlt. Denn immer wieder hatte es geheißen, die junge Frau habe zuvor zwei Minderjährigen helfen wollen, die von Sanel M. bedrängt worden waren. Daraufhin habe dieser Tugce niedergeschlagen. So sehen es auch die Anwälte von Tugces Familie, die im Prozess als Nebenkläger aufgetreten ist. Sie bezeichnen die Ohrfeige in ihren Plädoyers als von Sanel und einem seiner Freunde "verabredet und geplant". Die Anwälte wollen den Schlag als "zielgerichtete Bestrafung" verstanden wissen.
Sanel M. sei kein "wilder Koma-Schläger"
Zwar sei der Schlag des Angeklagten durch nichts zu rechtfertigen, betont auch Homm. Dennoch: "Das Bild des wilden, zielgerichteten Koma-Schlägers", das besonders von einer Boulevardzeitung gezeichnet worden war, sei "kaum aufrechtzuerhalten". Dies habe die Beweisaufnahme gezeigt. Die Geschehnisse auf der Toilette des Restaurants seien durch die Minderjährigen "relativiert worden", sagt der Oberstaatsanwalt. Zwar hätten sich diese von Sanel und dessen Kumpel belästigt gefühlt. "Es gab aber keinen Hilferuf“" ist Homm überzeugt. Die Minderjährigen hätten die Jungs laut aufgefordert zu gehen. Daraufhin sei Tugce hinzugekommen. "Was dann folgte, war zumindest keine freundliche Ansprache", so Homm. Tugce habe den Jungs, dies hatten verschiedene Zeugen bestätigt, "verpisst euch" entgegengeschleudert. Es sei "ein lauter Streit" entbrannt.
Kurz darauf habe sich die Situation jedoch beruhigt und sei erst später auf dem Parkplatz eskaliert – nachdem beide Gruppen beim Verlassen der Burger-Braterei eher zufällig aufeinandertrafen. Die jungen Männer hätten dann mit Provokationen begonnen, woraufhin "wechselseitige Beleidigungen" folgten, so Homm. Die Nebenklagevertreter sprechen in diesem Punkt davon, Tugce und ihre Freundinnen hätten den Jungs lediglich "Paroli" geboten. "Die Worte Hurensohn und Hurentochter sind inflationär gefallen", meint dagegen Homm. Dies sehen die Anwälte des Angeklagten ähnlich. Auf dem Parkplatz hätten sich "zwei zornige junge Menschen gegenübergestanden", betont Stephan Kuhn, einer der drei Verteidiger von Sanel M. Dieser habe schließlich aus "maßloser Verärgerung" über die Beleidigungen zugeschlagen.
Oberstaatsanwalt Homm dagegen hatte diesbezüglich zuvor argumentiert, der Angeklagte, der eigentlich schon im Auto eines Freundes gesessen hatte, habe sich "aufgespielt zum großen, starken Mann" und zugeschlagen.
Auch das Opferverhalten muss betrachtet werden
Doch auch die Beleidigungen, die von Tugce geäußert worden seien, hat Homm nicht außer Acht gelassen. "Wer aber nun sagt, das Opfer sei demontiert worden, versteht den Rechtsstaat nicht", betont der Oberstaatsanwalt. "Es geht hier um Sachaufklärung." Nun so zu tun, als ob Tugce demontiert werde, "ist höchst unanständig". Und auch der Angeklagte sei keine "Projektionsfläche, an der man sich abreagieren kann". Homm jedenfalls wolle nicht in der Haut des 18-Jährigen stecken, wenn dieser die Haftanstalt verlasse. "Denn da ist durchaus etwas zu befürchten".
Jene Bedrohungen, eine alkoholbedingte Enthemmung und die bislang sieben Monate in Untersuchungshaft sollen dem Angeklagten nach dem Willen der Staatsanwaltschaft zugutegehalten werden. "Gegen den Angeklagten sprechen jedoch seine Vorstrafen", so Staatsanwältin Birgit Lüter in ihrem Teil des Plädoyers. Diese hätten gezeigt, dass sich M. in seiner Gewaltbereitschaft gesteigert habe. "Die aktuelle Tat ist also keineswegs eine Ausnahme". Um dem Erziehungsgedanken, der im Jugendstrafrecht im Vordergrund stehe, gerecht zu werden, müsse Sanel M. für drei Jahre und drei Monate in Haft. Die Nebenklagevertreter fordern eine "längere Gesamterziehung". Für die Verteidigung kommt dagegen ausschließlich eine Jugendstrafe infrage, die zur Bewährung ausgesetzt werden müsse. Das Urteil soll am Dienstag gesprochen werden.