Placebo hilft, auch wenn du weißt, es ist ein Fake
5. September 2024"Ich werde gefallen" – so die Übersetzung des lateinischen Wortes "placebo". Der Name ist Programm: Wenn Patientinnen und Patienten gegen ein Leiden ein sogenanntes Placebo erhalten, also ein Medikament ohne Wirkstoff, eine Scheinbehandlung oder sogar eine Scheinoperation, empfinden viele von ihnen eine Linderung ihres Leidens. Das nennt man den Placebo-Effekt.
Allerdings wissen die Behandelten nicht, dass sie nur eine Scheinbehandlung bekommen haben. In der Wissenschaft werden solche "verdeckten" Placebo-Medikationen aus ethischen Gründen nur zu Studienzwecken, nicht aber im medizinischen Alltag eingesetzt.
Doch Placebos können auch dann die gewünschte Wirkung entfalten, wenn den Behandelten bewusst ist, dass sie ein Scheinmedikament einnehmen. Dies bestätigt eine neue Studie der Michigan State University, die während der Corona-Pandemie durchgeführt und kürzlich veröffentlicht wurde.
Informationen zum Medikament ohne Wirkstoff
Dabei wurde einer Gruppe von 32 Freiwilligen ein Placebo verschrieben, eine andere Gruppe von 32 Personen erhielt keine Behandlung. Alle gaben an, während der Corona-Pandemie anhaltenden Stress erlebt zu haben.
Das Besondere: Die Placebo-Gruppe wusste, dass die Pillen keine Wirkstoffe hatten. Ihre Mitglieder sollten diese sogenannten Open Label Placebos, OLP, zweimal am Tag einnehmen. Außerdem sollten sie täglich einen Fragebogen zur Einhaltung der Pilleneinnahme ausfüllen. Sie wurden vorab informiert, dass die Behandlung möglicherweise helfen könnte, Stress und Ängste zu bewältigen. Außerdem bekamen sie Informationen über den Placebo-Effekt und darüber, wie bewusst eingenommene Placebos, also die OLP, wirken können.
Nach Ende der zweiwöchigen Studie empfanden diejenigen, die das Placebo eingenommen hatten, im Vergleich zur unbehandelten Gruppe weniger Stress, Angst und Depressionen.
Meta-Analyse zeigt Wirkung von Open Label Placebos
Schon zuvor hatte eine am Universitätsklinikum Freiburg erstellte Meta-Analyse ergeben, dass die bewusste Einnahme von Placebos in vielen Fällen Krankheitssymptome lindern kann. Dafür verglichen die Forscherinnen und Forscher 13 Studien mit insgesamt 834 Behandelten in den Bereichen Rückenschmerzen, Reizdarmsyndrom, Depression, Fatigue-Syndrom, ADHS, Heuschnupfen und Hitzewallungen.
"Wir konnten erstmals wissenschaftlich gesichert zeigen, dass auch offen verabreichte Placebos wirksam sein können", so Stefan Schmidt, Leiter der Systemischen Gesundheitsforschung an der Freiburger Universitätsklinik. Voraussetzung dafür war jedoch, dass die Behandelten auch zusätzliche Informationen über Placebo-Effekt erhielten.
Heilungserwartung für Placebo-Erfolg maßgeblich
Wie genau Open Label Placebos wirken, ist noch nicht abschließend geklärt. Bei Placebos, die vorgeben, ein wirksames Medikament zu sein, zeigten vielen Studien eine Assoziation, erklärt Ulrike Bingel, Professorin für Klinische Neurowissenschaften im DW-Interview.
"Um so mehr Linderung ich erwarte, um so mehr erfahre ich auch", so die Leiterin des Zentrums für Universitäre Schmerzmedizin in Essen im Ruhrgebiet. Treibende Kraft sei also nicht das Placebo selbst, sondern die positive Erwartung, die Menschen mit der Einnahme verknüpften.
Dieser Effekt wird übrigens auch hinter angeblichen "Behandlungserfolgen" der Homöopathie vermutet. Denn jenseits dessen sind keine wissenschaftlichen Wirkungen von homöopathischen Mitteln bekannt. Homöopathie lehnt auch Bingel als "Mumpitz" ab, der "jeder wissenschaftlichen Erkenntnis widerspricht".
Anders aber sieht die Lage bei den Open Label Placebos aus. Hier werden die Behandelten ja vorab aufgeklärt, dass sie keinerlei Wirkstoffe zu sich nehmen. Dennoch scheint auch hier die Erwartung der Heilung der Grund für die Verbesserung bestimmter Symptome zu sein.
Auch Bingel hat mehrere Studien durchgeführt, die zeigen, dass OLP bestimmte Leiden verbessern können – und das, obwohl man die Behandelten nur rein sachlich informiert habe. "Wir haben also gesagt: 'Wir wissen nicht, ob das wirkt, wir haben Hinweise aus mehreren Ländern, dass das Vorteile haben kann, wir kennen aber die Mechanismen nicht.' Und trotzdem hat es gewirkt." So hatten die Teilnehmenden einer Studie zu Rückenschmerzen laut Bingel nach drei Wochen Behandlung mit OLP eigenen Angaben zufolge weniger Schmerzen.
Placebos wirken im Gehirn
Körperlich aber, so betont Bingel, habe es allerdings keine Veränderung gegeben. So sei etwa die Wirbelsäule der Behandelten nicht beweglicher gewesen als vorher. Eine Heilung im medizinischen Sinne trat also nicht ein. Dennoch hatte sich die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verbessert.
"Subjektive Verbesserungen kann man im Gehirn auf einer objektiven neurobiologischen Ebene nachvollziehen. Da wird die Aktivität zum Beispiel in schmerzbezogenen oder depressionsbezogenen Arealen verändert." Dies zeigten erste neurobiologische Untersuchungen auch für die Open Label Placebos, sagt Bingel.
Die Neurowissenschaftlerin kann sich vorstellen, dass Open Labe Placebos in Zukunft als ein Mosaikstein von medizinischen Behandlungen angewendet werden könnten – vor allem dort, wo es keine guten Alternativen gebe, oder wenn sich Patientinnen und Patienten ausdrücklich mit einem Placebo behandeln lassen möchten.
Mindestens genauso wichtig sei es aber, die Mechanismen von Placebos, also die daran geknüpfte Erwartung, Kommunikation und das Vertrauen in den Erfolg systematisch auch bei echten Behandlungen zu nutzen und zu stärken. "Hier gibt es ein ganz großes, unausgeschöpftes Potential, Medikamente wirksamer und verträglicher zu machen, indem wir diese psychologischen Prozesse mit dazunehmen."
Unsere Quellen unter anderen:
Studie der Michigan State University zu Open Label Placebos
Meta-Studie der Universitätsklinik Freiburg