Pinheiro: "Der Sicherheitsrat hat versagt"
6. März 2014Die schweren Menschenrechtsverletzungen in Syrien treffen vor allem die Zivilbevölkerung. Diese leide massiv unter großflächigen Angriffen auf Wohngebiete und unter der Belagerung von Städten, heißt es in dem jüngsten Bericht der UN-Untersuchungskommission zur Lage in Syrien vom Mittwoch (05.03.2014). Die Kommission warf erneut beiden Seiten des Konflikts Verstöße gegen Völkerrecht und Kriegsverbrechen vor. Der Bericht deckt die Zeit zwischen Juli vergangenen Jahres und Ende Januar 2014 ab.
Deutsche Welle: Sie werfen in dem Bericht den Großmächten Untätigkeit im Konflikt in Syrien vor. Inwiefern haben die Großmächte versagt?
Paulo Sérgio Pinheiro: Wir haben auf die Unfähigkeit des UN-Sicherheitsrates hingewiesen, den Fall Syrien vor den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu bringen. Weil Syrien dem Römischen Statut [Vertragliche Grundlage des IStGH, Anm. d. Red.] nicht beigetreten ist, wäre der UN-Sicherheitsrat das einzige Organ der internationalen Gemeinschaft, das den Fall Syrien vor den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) bringen könnte. Aber weil die ständigen Mitglieder untereinander zerstritten sind, herrscht in Syrien mittlerweile anerkannte Straflosigkeit. Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen werden begangen, und die Täter bleiben total gelassen, weil sie sich vor keinerlei Justiz verantworten müssen.
Wird der aktuelle Bericht politische Konsequenzen haben?
Wir dokumentieren die Verstöße gegen Menschenrechte und das Humanitäre Völkerrecht. Damit sammeln wir Beweise, die der Internationale Strafgerichtshof hoffentlich irgendwann in einem künftigen Verfahren verwenden kann. Unser Auftrag besteht darin, die Fakten im Bezug auf Menschenrechtsverletzungen zu rekonstruieren, und, wenn möglich, die mutmaßlichen Täter zu benennen. Und genau das tun wir auch.
Sie sagten kürzlich, dass Länder mit Einfluss auf Kriegsparteien in Syrien versuchen sollten, diese zu einer Lösung des Konfliktes zu drängen.
Dieser Krieg hält nur deshalb an, weil sowohl die Regierung als auch die bewaffneten Rebellengruppen von verschiedenen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen unterstützt und finanziert werden. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Unterstützer beider Seiten für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden können.
Sehen Sie mittelfristig eine Lösung für den Krieg in Syrien?
Seit 2011 haben wir ständig wiederholt, dass es keine militärische Lösung gibt. Dies könnte vielleicht in 20 Jahren der Fall sein, aber bis dahin wäre Syrien völlig zerstört. Mit der Genf-2-Konferenz Anfang Februar haben die Verhandlungen begonnen. Wir haben uns nie der Illusion hingegeben, dass die Verhandlungen einfach würden. Es ist allerdings bedauernswert, dass die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und bewaffneten Rebellengruppen während der Verhandlungen weitergehen und Syrer weiterhin Syrer töten.
Befürworten Sie eine UN-Friedensmission in Syrien? Glauben Sie, dass es dafür eine Zustimmung aus China und Russland geben könnte?
Nein, deshalb sind wir ja so weit von einer Lösung entfernt. Dass die UNO eine Interventionstruppe entsendet, kann man nicht ganz ausschließen, aber es ist derzeit absolut unvorstellbar. Ohne einen Waffenstillstand, ohne eine Unterbrechung der Kämpfe, ist es sinnlos, überhaupt an eine UN-Truppe zu denken.
Die Krise in der Ukraine lenkt die Aufmerksamkeit derzeit weg von Syrien. Gerät der Konflikt nun in Vergessenheit?
Ich glaube nicht, dass die Tatsache, dass es in Europa eine neue Krise gibt, dazu führt, dass der Krieg in Syrien in Vergessenheit gerät. Ich hoffe, dass der Konflikt in der Ukraine auf diplomatischem Wege gelöst wird, und Russland und die USA Verantwortung übernehmen. Beide Länder sind extrem wichtig, und sie sollten in der Lage sein, mehr als einen Konflikt gleichzeitig zu bewältigen.