Pflegekräfte vom anderen Ende der Welt
22. März 2020Kurz bevor Deutschland wegen Corona keine Menschen außerhalb der Europäischen Union mehr ins Land lässt, kurz bevor sich auch Argentinien abschottet und die Grenzen schließt, und während Menschen verzweifelt aus allen Ecken der Welt versuchen, nach Hause zu ihren Familien zu kommen, macht Lorena Alejandra Yebara das komplette Gegenteil und damit etwas, wofür es eine große Portion Mut braucht: Die 26-jährige Argentinierin verlässt ihre geliebte Heimatstadt Córdoba und steigt mitten in der weltweiten Corona-Hysterie in einen Flieger nach Deutschland. Denn sie hat einen Traum, von dem sich Yebara auch von einem Virus nicht abbringen lassen will: als Krankenschwester in Deutschland zu arbeiten.
"Ich dachte bis zum letzten Moment, dass mein Flug wegen Corona bestimmt ausfällt. Das wäre ja eigentlich auch logisch gewesen, oder? Meine Mutter wollte auch nicht, dass ich fliege. Aber jetzt bin ich hier", sagt die junge Argentinierin, die sich gerade pflichtschuldig in Quarantäne befindet. In ihrem kleinen Zimmer in Düren büffelt Yebara tapfer Deutsch – wegen Corona online. Anfang der Woche musste das Schulungszentrum der Firma PersEU schließen, der Sprachunterricht findet nun per Computer statt. Das Unternehmen sucht im Auftrag deutscher Kliniken und Pflegeeinrichtungen Fachkräfte. Früher nur in Europa, jetzt verstärkt in Südamerika.
Abenteuer Deutschland wegen fehlender Perspektive
Lorena Yebaras Profil ist quasi wie gemalt für ein Land, das wegen Corona den akuten Pflegenotstand endlich zu begreifen scheint: eine an der Universität ausgebildete Krankenschwester mit qualifiziertem Abschluss, langjährige Berufserfahrung, auch auf der onkologischen Station, und gerade einmal 26 Jahre - ein Alter, in dem auch das Lernen der deutschen Sprache nicht ganz so schwerfällt.
"Es ist eigentlich total verrückt, dass ich jetzt hier bin", sagt die Argentinierin, „ich verlasse meine Familie, ich habe das letzte Geld für den Flug zusammengekratzt und kann nur wenig Deutsch. Aber ich habe einfach an meine persönliche und berufliche Zukunft gedacht!"
In Argentinien schuftete Yebara jeden Tag in zwei Krankenhäusern und arbeitete obendrauf noch abends in einem Fitnessstudio als Tanzlehrerin, um irgendwie über die Runden zu kommen. Wenn Sie abends erschöpft ins Bett fiel, dachte sie sich: "Wird mein Leben immer so monoton weitergehen? Ich fühlte mich wie eine Maschine, die jeden Tag von 6 bis 23 Uhr funktionieren muss."
Auch in Argentinien wird Pflegepersonal schlecht bezahlt - mit den paar Pesos, die Yebara am Monatsende übrigblieben, unterstützte sie ihre Familie. "Als Krankenschwester bist Du in Argentinien nicht anerkannt und wirst auch nicht wertgeschätzt", erklärt sie.
Yebara hofft, dass das in Deutschland anders ist. Ein Land, mit dem die Argentinierin viel Bürokratie verbindet, aber auch Ordnung, Ruhe, und dass die Sachen funktionieren. Größtes Hindernis bleibt die deutsche Sprache – Yebara und die Neuankömmlinge müssen vor allem die medizinischen Fachbegriffe aus dem Effeff beherrschen.
Sobald sie die nächsten Sprachprüfungen besteht, fängt sie an einer Klinik in Erftstadt an zu arbeiten. Doch irgendwann will die junge Argentinierin zurück in ihre Heimat, "um meine ganze Erfahrung, die ich hier gesammelt habe, an das Gesundheitspersonal dort weiterzugeben."
Corona-Krise deckt deutschen Pflegenotstand schonungslos auf
Von Nina Baumann könnte Lorena Yebara da eine Menge lernen. Baumann kommt selbst aus der Pflege, hat auch schon Altersheime geleitet und vermittelt seit neun Jahren Pflegepersonal nach Deutschland. Sie organisiert für Yebara und die anderen Neuankömmlinge nicht nur die Sprachkurse, sondern hilft später auch bei der Wohnungssuche, dem Familiennachzug oder auch einen Kindergarten- oder Schulplatz zu finden.
Wenn also jemand eine Ahnung hat, wie es um die Pflege in Deutschland bestellt ist, dann ist es Nina Baumann. Und ihr Urteil ist vernichtend: "Die Situation hier ist, nach allem, was ich auch aus Gesprächen mit unseren Schülern weiß, viel schlechter als in anderen Teilen der Welt."
Die Zahlen, die jetzt vor allem wegen der Corona-Krise immer häufiger präsentiert werden, sind beängstigend: Fast 5.000 Intensiv-Pflegekräfte fehlen zurzeit, von denen, die auf den Notstationen arbeiten, denkt jeder Dritte in den nächsten fünf Jahren daran aufzuhören. Bundesweit fehlen schon jetzt über 100.000 Pflegekräfte, in den nächsten 15 Jahren wird sich diese Zahl nahezu verdoppeln.
Deutschland verstärkt die Suche nach Pflegekräften in Lateinamerika
Kein Wunder, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im September sogar nach Mexiko geflogen ist, um dort mexikanische Fachkräfte für die Arbeit in Deutschland zu begeistern. "Bis vor zwei Jahren waren weitgehend nur Fachkräfte aus der Europäischen Union gefragt, doch die kehren jetzt häufig in ihr Land zurück", sagt Nina Baumann, "deswegen sind Kliniken und Einrichtungen nun auf Drittstaatler umgestiegen."
Für PersEU heiß das, vor allem in Ländern wie Argentinien und Brasilien zu suchen. Das Personal dort ist gut ausgebildet, die Ausbildung ist der Spaniens sehr ähnlich und auch die Strukturen der Krankenhäuser mit denen Deutschlands vergleichbar.
Aber dann ist da noch die deutsche Bürokratie: Tausende ausländische Pflegekräfte, die bereits in Deutschland sind, haben noch nicht die Anerkennung durch die entsprechenden Landesbehörden erhalten. Hochkompetente Fachkräfte, die sofort einsetzbar wären, aber den Status eines Praktikanten genießen. Baumann nennt ein Beispiel: "Eine italienische Hebamme, die seit zwei Jahren hier arbeitet und wegen Prüfungsangst vor 18 Monaten durch eine Deutschprüfung gerasselt ist, sitzt gerade zu Hause in Bonn und wartet. Und auch die Klinik wartet. Weil die Bezirksregierung keine Entscheidung treffen will."
Die PersEU-Mitarbeiterin findet, dass Deutschland von Pflegekräften aus Südamerika nicht nur profitieren, sondern auch viel lernen kann. "Unsere Schüler hier sind immer sehr irritiert über den Umgang mit Hygiene in deutschen Krankenhäusern. Und sie sind entsetzt, wie viel Essen in Deutschland weggeworfen wird, weil es falsch bestellt wurde. Auch der Respekt vor dem Patienten ist andernorts höher", sagt Baumann.
Jeden Tag rufen sie mittlerweile Krankenhäuser und Pflegeheime an, die verzweifelt nach Fachkräften fragen. Wegen Corona werden gerade in Deutschland nicht nur Mediziner aus dem Ruhestand geholt, sondern auch Pflegekräfte. Und Personal aus anderen Abteilungen wird gerade im Hauruck-Verfahren für die Intensiv-Pflege geschult.
Wenn irgendwann die Corona-Krise vorbei sei, müsse Deutschland seine Lehren und auch Konsequenzen ziehen, fordert Nina Baumann: „Wir brauchen deutlich mehr Pflegekräfte aus dem Ausland. Deutschland muss weiterhin an einer Willkommenskultur arbeiten, um attraktiv für ausländische Pflegekräfte zu sein. Und man muss Pflegekräften aus dem Ausland auch durchaus mehr medizinische Pflege zutrauen als das aktuell der Fall ist."