Ich denke, also gehe ich!
13. September 2013Die Deutschen werden immer älter, doch nicht jeder bleibt bis ins hohe Alter gesund. Zehntausende benötigen pro Jahr Herzschrittmacher, Hüftgelenke, Gehirnimplantate oder Beinprothesen. In einer alternden Gesellschaft steigt die Nachfrage nach Medizintechnik ständig. Der Jahresumsatz der Branche beläuft sich inzwischen auf 21 Milliarden Euro. Tendenz weiter steigend. Auf die Möglichkeiten, die dieser expandierende Markt bietet, setzen insbesondere junge Unternehmen. So wie die Firma SNAP in Bochum. SNAP steht für "Sensor Basierte Neuronal Adaptive Prothetik." Dieses 2010 als Forschungsbetrieb gegründete Unternehmen entwickelt eine Sensortechnik, um Prothesen mit der Kraft der Gedanken zu steuern.
Am Anfang wird vermessen
Als Startkapital erhielt SNAP eine Anschubfinanzierung von 1,5 Millionen Euro aus dem europäischen Strukturfonds. Geld, das sich auszuzahlen verspricht, da sich für den Kauf der entwickelten Technologieplattform bereits mehrere Kliniken und ein großer Prothesenhersteller interessieren. Sitz des Unternehmens ist das Bio-Medizinzentrum am Rand der Ruhr-Universität Bochum. Im größten Raum befindet sich der Herzstück von SNAP: der Messstand. Hier bewegen sich mit Sensoren verkabelte Probanden Schritt für Schritt auf einem Laufband. Etwa zwei Meter entfernt beobachtet Astra Kohlmann an ihrem Monitor aufmerksam die auflaufenden Messdaten. Integriert in dieses Laufband sind Druckmessplatten, die jeden Fußtritt registrieren und an den Computer weiterleiten. "Gemessen", sagt Astra Kohlmann, "wird die Stärke des Drucks, wie der Fuß auf dem Laufband auftritt, in welchem Winkel der Fuß auftritt und das Abrollverhalten des Fußes."
Gehbefehle aus dem Gehirn
Außerdem tragen die Probanden eine Kopfhaube, in der sich 17 Elektroden befinden. Parallel zu den Bewegungen registriert das System auch die jeweilige Hirnaktivität, erläutert Projektleiter Professor Hartmut Weigelt. "Diese Elektroden erfassen einen Bereich von ungefähr zwei Quadratzentimetern und eine Tiefe von drei Millimetern im Gehirn."
Bei der von SNAP entwickelten Technik werden dabei Frequenzen in verschiedenen Hirnbereichen erfasst. Insbesondere wie das Auge die Umgebung beim Gehen erfasst und wie der für die Motorik zuständige Gehirnteil diese Impulse in Bewegung umsetzt. Diese Daten liefern die Bausteine für die Steuerung einer Prothese durch neuronale Signale. Bei nichtbehinderten Menschen, sagt Projektleiter Weigelt, findet der Bewegungsvorgang unbewusst in der Steuerung über das Kleinhirn und im Rückenmark statt. Mit der entwickelten Apparatur ist man bei SNAP einen entscheidenden Schritt vorangekommen. "Jetzt finden wir tatsächlich Signale, die mit dem Gehen korreliert sind.
Mitdenkende Prothesen
Ziel ist es schließlich, Prothesen individuell so optimal auszurichten, dass körperbehinderte Menschen nahezu jede Bewegung wieder ausführen können. Eine mechatronische Steuerung sorgt für eine Umsetzung der Gehirnsignale, wie sie auch in den echten Körperteilen vonstatten gehen würde. Mit solchen Prothesen sind selbst sportliche Aktivitäten wie etwa Bergwandern möglich. Denn die Prothese fungiert nicht anstelle des Beins, sagt Geschäftsführer Uwe Seidel, sondern wie das Bein. In diesem Zusammenhang verweist Seidel gern auf das Motto von SNAP. Und das lautet: "Ich denke, also gehe ich."
Die von dem medizintechnischen Unternehmen aus Bochum entwickelte Technologieplattform kann Prothesenträgern zu einem bewegungsfreieren Leben verhelfen. Gedacht ist sie allerdings nicht, wie Uwe Seidel erläutert, "primär für den Patienten, sondern für entwickelnde, forschende Unternehmen." In Betracht kommen dabei sowohl Hersteller von Prothesen als auch Kliniken, die bei der Betreuung von amputierten Patienten selbst nicht über diese Messeinrichtung verfügen.
Ein Schritt nach vorn
Der Markt für dieses Produkt ist nach den Worten von Uwe Seidel jedenfalls vorhanden. Der SNAP-Geschäftsführer verweist dabei auf die Versorgungsfolgen der Volkskrankheit Diabetes. Aufgrund dieser Erkrankung bleibt im fortgeschrittenen Stadium medizinisch oft keine andere Entscheidung als die Amputation der unteren Extremitäten, also von Unter- und Oberschenkel. Nach einer bundesweiten Erhebung der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) sind davon jährlich 40.000 Patienten betroffen.
Rechnet man zu diese Eingriffen diejenigen hinzu, die von anderen Krankenkassen bezahlt werden, geht es jährlich um wenigstens 100.000 Menschen. Nicht eingerechnet jene, die durch Unfälle ihre unteren Gliedmaßen verlieren. Für Prothesen mit individuell eingespeicherten Steuerungssignalen besteht absehbar ein großer Bedarf. Vor allem aufgrund des Vorzuges, dass sich der Träger dafür keiner Operation unterziehen muss, um ein Implantat eingepflanzt zu bekommen. Die SNAP-Lösung besteht aus Elektroden, die außen am Kopf angebracht werden und die Prothese mental steuern. Für Patienten stellt diese Entwicklung eine spürbare Erleichterung im Alltag dar.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass bereits namhafte internationale Prothesenhersteller konkretes Interesse an der Technologieplattform von SNAP zeigen.