China-Kritik unerwünscht
31. Oktober 2020Die Bücher waren gerade gedruckt, da meldete sich die Zensur: Nora Frisch, Übersetzerin und Inhaberin eines kleinen Verlags im süddeutschen Esslingen, hatte einen Roman des chinesischen Jugendbuchautors Cao Wenxuan verlegt, als sie per Chatnachricht aufgefordert wurde, die Veröffentlichung zu stoppen. Man werde später Änderungen schicken. "Libellenaugen" erzählt die Geschichte einer älteren französischen Dame, die in eine chinesische Familie einheiratet. In den 1960er Jahren - da ist sie bereits Großmutter - gerät sie in die Wirren der Kulturrevolution.
Nora Frisch hatte drei Jahre zuvor die Lizenz von einem chinesischen Verlag gekauft. Jetzt teilte ihr eine Mitarbeiterin mit, die "zuständigen Behörden" hätten Einwände gegen das Buch. Sollte sie die Veröffentlichung nicht zurückziehen, könne eine geplante Lesereise mit dem Autor nicht stattfinden. "Sie wurde richtig ausfällig", erinnert sich Frisch.
"Chinas Geschichten gut erzählen"
In den vergangenen Jahren haben die Zensurbehörden in China ihre Gangart verschärft. Gleichzeitig versucht die Kommunistische Partei ihren Einfluss im Ausland auszuweiten. Parteichef Xi Jinping hat Medien und Verlage in China mehrfach aufgefordert, "Chinas Geschichten gut zu erzählen" und so dem Land mehr Ansehen in der Welt zu verschaffen.
Wie genau das aussehen kann, konnte man kürzlich in einigen Buchläden der Thalia-Kette in Deutschland beobachten. Plötzlich wurden in ausgewählten Läden mehrere Regalmeter prominent mit chinesischer Literatur bestückt. Im Zentrum des Arrangements standen die Werke von Partei- und Staatschef Xi Jinping. Bücher die sich kritisch mit der Kommunistischen Partei auseinandersetzen, fehlten dagegen vollständig. Thalia räumte auf Anfrage ein, dass die Regale von der Firma China Book Trading bestückt worden waren, der deutschen Tochtergesellschaft der parteieigenen China International Publishing Group. Ob die China Book Trading für die prominente Ausstellungsfläche bezahlt hatte, wollte Thalia nicht verraten.
Die Korrekturen, die der chinesische Verlag später schickte, betrafen das letzte Kapitel des Romans von Cao Wenxuan. Die Roten Garden halten die französische Großmutter für eine Spionin. Sie nehmen sie gefangen und scheren ihr den Kopf. Dann brechen Kämpfe zwischen verschiedenen Rebellengruppen aus und die Französin kommt frei. Die Änderungen sind dezent. So bittet die alte Dame in der Originalfassung eine der verbliebenen Rotgardistinnen um ein Tuch, das diese um den Hals trägt, damit sie sich den geschorenen Kopf bedecken kann. In der geänderten Fassung bietet das Mädchen ihr ihr Tuch an. Warum den Behörden diese Änderungen so wichtig waren, ist unklar. Es sind eher subtile Korrekturen, die das Gesamtbild der Roten Garden eine Nuance weicher zeichnen. An der grundsätzlichen Erzählung ändern sie aber nichts.
"Wo genau die roten Linien verlaufen, ist schwer zu sagen", analysiert David Bandurski, der für das China Media Project über Zensur forscht. "Aber man muss verstehen, dass die Kommunistische Partei die Geschichte nie hinter sich lässt. Sie steht ihr immer vor Augen - als drohende Gefahr für ihre Macht."
"Im Interesse des Autors und des Staates"
Auf Anfrage der DW erklärt die zuständige Mitarbeiterin des Verlags Phönix Kinderliteratur in Nanjing, dass die Änderungen vom Autor gewünscht worden seien. Ein Chatverlauf legt allerdings anderes nahe. Das Thema sei "sensibel" schreibt die Mitarbeiterin darin. Die "zuständigen Stellen" hätten negativ auf die Veröffentlichung des Romans in China reagiert. Die Mitarbeiterin schärft ihrer deutschen Gesprächspartnerin ein, sie müsse öffentlich betonen, dass die Geschichte erfunden sei. (In der chinesischen Ausgabe schreibt der Autor selbst im Vorwort, dass die Geschichte auf Erinnerungen beruhe, die ihm erzählt wurden.) Später fordert sie sie auf, "im Interesse des Autors und des Staates" jegliche Werbung für das Buch einzustellen. Dann legt sie noch einmal nach. "Weil das Buch die Kulturrevolution betrifft und weil wir ein Jubiläumsjahr haben, dürfen Sie das Buch bis auf weiteres nicht veröffentlichen", schreibt sie an Frisch.
Der Chatverlauf stammt von Ende Oktober 2019, damals hatte die Volksrepublik China gerade den 70. Jahrestag ihrer Gründung begangen. Mit drohendem Unterton fügt sie noch hinzu: "Hören Sie auf unseren Rat. Sie schützen damit auch ihren eigenen Verlag." Im Lizenzvertrag, den die DW einsehen konnte, steht nichts von einer Freigabe durch den chinesischen Verlag. "Ich bekomme einen Text und den übersetze ich", sagt Nora Frisch. "Ich möchte mich nicht politisch einspannen lassen."
Frisch, deren Drachenhaus-Verlag auf chinesische Literatur und Kultur spezialisiert ist, hat schon häufiger mit der chinesischen Zensur Bekanntschaft gemacht. Einmal wollte ein Staatsverlag die Lizenz für einen Kriminalroman daran knüpfen, dass sie auch die Werke des Parteivorsitzenden Xi Jinping in ihr Programm nimmt. Und 2014 hatte sie einen Druckauftrag nach China vergeben, als die Druckerei sich plötzlich weigerte, das Buch zu drucken. Eine Karte zeigte Taiwan in einem anderen Grauton als Festlandchina. Druckereien in China müssen sich Druckaufträge aus dem Ausland von den Behörden genehmigen lassen. Obwohl sie garantieren müssen, dass die gesamte Auflage ins Ausland verschifft wird, gelten chinesische Zensurbestimmungen. "Die haben sich so lange geweigert, das zu drucken, bis ich die Karte geändert habe", erinnert sich Frisch.
Verlage in Australien und Neuseeland berichten von ähnlichen Erfahrungen. Die nachträglichen Zensuranweisungen bei den "Libellenaugen" haben Frisch trotzdem überrascht. "Ich habe so etwas noch nie erlebt", sagt sie. Auch andere Branchenkenner können sich an derart offene Eingriffe nicht erinnern. Doch dass Chinas Behörden stärker versuchen Einfluss darauf zu nehmen, was im Ausland veröffentlicht wird, berichten mehrere. Eine Übersetzerin, die nicht genannt werden will, erinnert sich an eine Konferenz, zu der Verleger und Übersetzer nach Peking eingeladen wurden. Auf Staatskosten wurden sie in in teuren Hotels untergebracht und zu Banketten geladen, um dann stapelweise Propagandamaterial über Xi Jinpings Vorzeigeprojekt "Neue Seidenstraßen-Initiative" angeboten zu bekommen. Und Ingrid Fischer-Schreiber, die seit mehreren Jahrzehnten als Übersetzerin arbeitet, erzählt, dass zuletzt mehrmals Aufträge für Übersetzungen direkt aus Peking gekommen seien. Mal waren es die Kindheitserinnerungen eines Zensurbeamten, mal eine Erzählung einer parteitreuen Schriftstellerin. Ihr Honorar erhielt sie auch aus Peking. Eins der Bücher erschien in einem unbekannten Kleinstverlag. Das andere kam nie auf den Markt. "Da kann man sich keinen Reim drauf machen", sagt sie.
Im Visier des nationalistischen Internetmobs
Wie sehr Übersetzer selbst ins Visier von Chinas Propaganda geraten können, musste Michael Kahn-Ackermann in Frühjahr dieses Jahres feststellen. Damals wurde bekannt, dass die Schriftstellerin Fang Fang ihr Wuhan-Tagebuch in Deutschland und den USA veröffentlichen wolle. Kahn-Ackermann bekam den Auftrag, es ins Deutsche zu übertragen. Das Tagebuch schildert das Leid, die Unsicherheit und die Angst während des COVID-19-Ausbruchs in Wuhan und der anschließenden Abriegelung der Stadt. Die Einträge sind im chinesischen Internet frei zugänglich, ihre Entscheidung, das Buch im Ausland zu veröffentlichen, brachte ihr dennoch heftige Attacken auf Chinas sozialen Medien ein. Kahn-Ackermann wurde ebenfalls angegriffen. Er wurde wurde als "bekannter Anti-China-Schurke" und ähnliches bezeichnet. In China ist nie klar, wie viel von solchen Angriffen spontan ist und wie viel gesteuert. Doch ebenso plötzlich wie sie gekommen waren, hörten die Angriffe wieder auf. "Das ist ganz schnell abgeebbt", sagt Kahn-Ackermann.
Nora Frisch hat ihre Publikation trotz der penetranten Versuche des chinesischen Verlags nicht gestoppt. Daraufhin sagte die chinesische Seite eine geplante Lesung in Wien ab, seltsamerweise eine Lesung, die gemeinsam mit dem staatlichen Konfuzius-Institut veranstaltet werden sollte. Eine Lesung auf dem Lesefest Bonn konnte stattfinden - allerdings bestand der Verlag darauf, dass der Autor nur aus älteren Werken vorliest. „Libellenaugen" durfte nicht erwähnt werden. Das Buch, das nur in einer kleinen Auflage erschienen ist, ist nach wie vor auf dem deutschen Markt erhältlich. "Ich bin eine unabhängige Verlegerin", sagt Nora Frisch, "ich sehe nicht ein warum ich meine Redefreiheit abgegeben soll."