"Peking hat Tibet nicht im Griff"
21. März 2019DW: In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters hat der Dalai Lama vor kurzem das Weiterbestehen der Institution eines Dalai Lama nach seinem Tod zur Disposition gestellt: Diese Frage solle Ende des Jahres bei einem Treffen von tibetischen Buddhisten in Indien besprochen werden. "Wenn die Mehrheit des tibetischen Volkes an dieser Institution festhalten will, dann wird sie weiterbestehen. Dann stellt sich die Frage der Re-Inkarnation des 15. Dalai Lama." Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es keinen 15. Dalai Lama geben wird?
Karénina Kollmar-Paulenz: Das halte ich für sehr wenig wahrscheinlich, da der Dalai Lama im Exil zum Kristallisationspunkt der tibetischen nationalen Identität geworden ist. Gibt es keinen 15. Dalai Lama, wird die Einheit der tibetischen Nation auf die Probe gestellt, und es besteht die große Gefahr eines Zerbrechens der tibetischen Gesellschaft in verschiedene Fraktionen.
Nach tibetisch-buddhistischer Lehrmeinung aber entscheiden Wiedergeburten selbst, ob sie sich wieder verkörpern oder aber nicht. Sie tun dies aus einer Haltung des Mitgefühls heraus, der höchsten ethischen Verpflichtung im Mahayana-Buddhismus.
Wenn der jetzige Dalai Lama aus dieser Geisteshaltung heraus entscheidet, nicht wiedergeboren zu werden, dann endet diese Wiedergeburtenlinie. Als Entscheidungsgrundlage kann er durchaus die Wünsche des tibetischen Volkes heranziehen. Er kann auch argumentieren, dass die politischen Nachteile für die Menschen in der Autonomen Region Tibet durch die Installation eines 15. Dalai Lamas so groß wären, dass er aus Mitgefühl auf die Wiedergeburt verzichtet. Der Dalai Lama wird abwägen zwischen dem Nutzen und dem Schaden, die sich durch eine erneute Wiedergeburt ergeben würden.
Wie könnte man die Meinung der "Mehrheit des tibetischen Volkes" herausfinden? Wäre das nicht ziemlich schwierig?
Dazu könnte man zum Beispiel im Exil eine Befragung durchführen. Unter den Tibetern in China ist das natürlich nicht möglich. Aber es bestehen vielfältige Kontakte zwischen der tibetischen Exilgesellschaft und den Bewohnern Tibets und der angrenzenden tibetischen Regionen, und ich bin mir sicher, dass die Meinung der dortigen Menschen auf informelle Weise erfragt werden kann.
15. Dalai Lama aus Indien?
Der Dalai Lama hat auch die Möglichkeit angesprochen, dass seine Re-Inkarnation in Indien gefunden werde: "Zukünftig könnte es zwei Dalai Lamas geben, einen von hier, aus einem freien Land (Indien), und einen von China ausgewählten." Wie würde Peking auf einen in Indien gefundenen 15. Dalai Lama reagieren?
Ablehnend. Ein in Indien aufgefundener 15. Dalai Lama hätte seine Legitimation durch das traditionelle tibetische Auswahlverfahren. Peking würde argumentieren, dass das Auswahlverfahren mit der Goldenen Urne nicht angewandt worden sei, und daher der Dalai Lama nicht legitimiert sei. Das Verfahren mit der Goldenen Urne wurde 1793 durch den Qianlong-Kaiser der Qing-Dynastie eingeführt, es war seit dieser Zeit im Qing-Reich für die Auffindung von Wiedergeburten vorgeschrieben. Allerdings wurde es sehr oft nicht angewandt.
Die Einführung der Goldenen Urne zeigt sehr deutlich den Primat der Politik vor der Religion in China. Dies ist eine lange chinesische Tradition, und sie setzt sich in der Politik der VR China fort. Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass die VR China sich auf ein Verfahren beruft, das von einem von ihr ja abgelehnten feudalistischen Regime eingeführt wurde. Und es ist ebenfalls in sich widersprüchlich, dass ein atheistischer Staat die Deutungshoheit über ein religiöses Verfahren beansprucht.
Ich gehe davon aus, dass es zwei 15. Dalai Lamas geben wird: Einen, der im Exil geboren wird, und einen, der in Tibet geboren wird und durch das Verfahren der Goldenen Urne (Grundlage dafür ist das entsprechende Gesetz von 2007) aufgefunden wird. Und der Dalai Lama hat Recht: Dieser 15. Dalai Lama von Chinas Gnaden wird keinerlei Akzeptanz unter den Tibetern weltweit finden.
Zweigleisige Kulturpolitik Chinas in Tibet
Wie hat sich die chinesische Kultur- und Religionspolitik in Tibet in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt?
Pekings Politik in Bezug auf die tibetische Kultur als Ausdruck einer ethnisch-nationalen Identität verschärfte sich Mitte der 1990er Jahre. Sichtbarster Ausdruck dafür war die Einsetzung des 11. Pantschen Lama (zweithöchster religiöser Führer in Tibet nach dem Dalai Lama) durch die Zentralregierung anstatt durch eine Findungskommission der Mönche im Jahr 1995. Gleichzeitig wurden die Klöster wieder strikter an die Leine genommen. In die sogenannten Management-Komitees, die zu jedem Kloster gehören, wurde ein Partei-Vertreter entsandt, der natürlich genau überwacht, was in den Klöstern läuft. Man hat dann versucht, missliebige Praktiken zu unterbinden, wie z.B. Gebete für ein langes Leben des Dalai Lama.
Schon 1994 hatte die chinesische Regierung die Devise ausgegeben: Anpassung des tibetischen Buddhismus an den Sozialismus. Über Jahre hinweg durften hohe Lamas, auch Mönche, für eine kurze Zeit nach Indien ausreisen, konnten da zum Beispiel Belehrungen bei bestimmten Lamas im Exil hören oder auch beim Dalai Lama. Das wurde immer mehr limitiert und ist inzwischen fast gänzlich verboten.
Peking behauptet, die tibetische Kultur und Sprache zu fördern.
Das ist auch nicht falsch. So wurde zum Beispiel vor kurzem der buddhistische Kanon auf Tibetisch neu aufgelegt. Die tibetische Akademie der Wissenschaften lanciert immer wieder neue Projekte, sämtliche Klassiker der tibetischen Literatur sind auf Tibetisch publiziert. Es gibt auch hervorragende Tibetologen in Tibet, ihre Kollegen aus dem Ausland dürfen allerdings seit 2008 nicht mehr in Tibet forschen. Die Klöster wurden zum Teil wieder aufgebaut, vor allem in Ost-Tibet, wohin viele Touristen kommen; in Zentral-Tibet wurde dagegen in dieser Hinsicht sehr viel weniger gemacht.
Gleichzeitig gibt es auch eine Tendenz zur Musealisierung der tibetischen Kultur. Zum Beispiel werden religiöse Tänze, die in den Klöstern aufgeführt wurden, jetzt für Touristen aufgeführt und verlieren dann natürlich ihren ursprünglichen Sinn. Das wurde schon immer von den Chinesen gefördert, wird aber bei den Tibetern sehr kontrovers diskutiert. Was die Sprach-Politik betrifft: Chinesisch-Unterricht ist natürlich für das berufliche oder akademische Weiterkommen der Minderheiten unentbehrlich, insofern tut Peking durchaus etwas für letztere.
Tibet als spirituelles Ziel für Chinesen
Welche Rolle spielt der stark gestiegene chinesische Tourismus in Tibet? Wird er als Bedrohung empfunden?
Das glaube ich eigentlich nicht. Es sind zwei Dinge, die da eine Rolle spielen. Einmal das Wirtschaftliche, also die Frage: Wer profitiert? Die großen Hotels sind in chinesischen Händen. Aber es profitieren auch die Tibeter, zum Beispiel als Führer solcher Touristengruppen. Das ist die eine Seite.
Die andere ist eine spirituelle. Die Verbindung zwischen chinesischen Laien und tibetischen Lamas war schon im 19. Jahrhundert und besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr stark. Diese Verbindung lebt jetzt wieder auf. Die chinesische Mittelklasse hat sozusagen Tibet als Shangri-La entdeckt, also als das, was bei uns dieser Mythos Tibet war, der aber inzwischen abgebröckelt ist. Tibet als das mystische Land der Meditation, der Ursprünglichkeit. Nicht zuletzt deswegen ist Tibet ein sehr wichtiges touristisches Ziel geworden, und viele chinesische Laien haben tibetische Lamas als ihre geistlichen Führer.
Tibeter wollen sich nicht assimilieren
Trotz der erwähnten Wohltaten und der neuen Faszination besteht die Kluft zwischen Tibetern und Chinesen weiterhin, oder?
Es ist einfach so, dass die Tibeter sich nicht assimilieren wollen, das wollen sie genauso wenig wie die Mongolen oder die Uiguren. Deswegen erleiden hohe Lamas, denen die Chinesen politische Ämter geben, um sie einzubinden, in der tibetischen Bevölkerung einen massiven Ansehensverlust. Solche Lamas werden als Lakaien der chinesischen Regierung angesehen, die Nähe zur Macht wird als moralisch verderblich empfunden, und dagegen formiert sich auch Widerstand.
Die stärkste Form des Protests gegen die Fremdbestimmung sind die Selbstverbrennungen. Deren Zahl ist zwar etwas zurückgegangen, aber sie gehen weiter. Es gibt inzwischen Auswertungen von Statements dieser Menschen, die sich verbrannt haben. Die meisten Frauen übrigens in der Nähe von Klöstern, die meisten Männer in der Nähe von staatlichen Institutionen. Aber bei beiden geht es meistens um den Dalai Lama und um die tibetische Identität. Und das zeigt: Die chinesische Regierung hat Tibet nicht im Griff.
Karénina Kollmar-Paulenz leitet das Institut für Religionswissenschaft an der Universität Bern. Ihr Forschungsschwerpunkt ist unter anderem die Kultur- und Religionsgeschichte Tibets und der Mongolei.