"Am Renntag werden wir zu Wölfen"
5. April 2019Die Saison ist noch jung, doch schon jetzt zählen die Fahrer in Blau 20 Saisonsiege. Kleinere Teams des Profiradsports wären mit einer solchen Ausbeute am Ende der Saison mehr als glücklich. Nicht so die Belgier: Ihr Hunger nach Erfolg hat ihnen einen Spitznamen eingebracht, den sie inzwischen werbewirksam vermarkten: #theWolfpack, das Wolfsrudel. Im Vorjahr waren es stolze 76 Siege, weit mehr, als jedes andere Radteam auf der Welt einfahren konnte. Insbesondere bei den klassischen Eintagesrennen sind Julian Alaphilippe (der Mailand-Sanremo in eindrucksvoller Manier gewann), Philippe Gilbert, Bob Jungels, Zdenek Stybar und Co. kaum zu schlagen. Sie agieren taktisch geschickt, sind bereit, die Kapitänsrolle zu tauschen und sind vor allem im Rennfinale numerisch überlegen. Dabei liegt der Etat von rund 18 Millionen weit unter dem des britischen Sky Teams (rund 40 Millionen Euro). Woher kommt diese Dominanz des belgischen Rennstalls, der aus der italienischen Mapei-Mannschaft hervorging?
Beantworten kann diese Frage vor allem ein Mann: Patrick Lefevere. Der Teamchef und -gründer hat über Jahre an seinem Rennstall gefeilt, hat ein gutes Händchen bei der Fahrerauswahl bewiesen und musste trotz der Erfolge immer wieder neue Sponsoren suchen. So auch im letzten Jahr, als sein Team vor dem Aus stand. Vor der anstehenden Flandernrundfahrt, dem 267 Kilometer langen Heimrennen von Deceuninck-Quick-Step und Saisonhöhepunkt im radsportverrückten Belgien, spricht Patrick Lefevere über sein Lebenswerk.
DW: Warum gewinnt ihr Team mehr Klassiker als alle anderen?
Patrick Lefevere: Ich wähle einfach die richtigen Fahrer aus, denke ich. Es begann mit Fahrern wie Johan Museeuw oder Tom Boonen, mit denen wir große Erfolge hatten. Und dazu kamen viele weitere Fahrer, die Klassiker gewonnen haben. Die Erinnerung daran ist großartig. Ein anderer Grund ist: In diesen Wochen des Jahres sind alle im Team sehr fokussiert. Nur so ist es möglich, dass wir gewinnen.
Ihr Team fährt bei den Frühjahrsklassikern, als ginge es um die Weltmeisterschaft. Sind diese Rennen Teil der DNA ihres Teams?
Wir leben hier, wo diese Rennen stattfinden. Die Klassiker waren in unserer Muttermilch. Wenn es auf die Klassiker zugeht, steigt bei jedem von uns der Adrenalin-Pegel. Am Renntag werden wir wirklich zu Wölfen (lacht).
Sie sind der Chef des erfolgreichsten Rennstalls im Radsport. Was bedeutet Ihnen der Erfolg?
Wir sind schon seit langem ein erfolgreiches Team. Ich habe meine Karriere vor vielen Jahren begonnen [Lefevere war in den 70er Jahren Radprofi und begann 1980 mit seiner zweiten Karriere als Sport-Direktor, Anm. d. Red.]. Aber seit 1993 bin ich auf der Seite des Erfolges. Es begann bei Mapei mit großen Fahrern wie Johan Museeuw, Paolo Bettini und Mario Cippolini. Und mit diesem Team [Deceuninck-Quick-Step] haben wir 2003 nahtlos dort weiter gemacht. Inzwischen bin ich 64 Jahre alt, aber mein Hunger nach Erfolg ist immer noch da.
Wie kommt das?
Ich weiß es nicht. An dem Tag, an dem ich nicht mehr mit aller Kraft gewinnen möchte, werde ich aufhören und in den Ruhestand gehen.
Sie haben einen langen Weg im Radsport hinter sich. Was war im Rückblick entscheidend für Ihren Sprung an die Spitze des Radsports?
Ich denke Geduld. Du darfst nicht losrennen, bevor du laufen kannst. Es hat lange gebraucht, bis ich hierher gekommen bin, wo ich jetzt stehe. Als ich jung war, habe ich Fehler gemacht. Aber glücklicherweise hatte ich Menschen um mich, die an mich geglaubt haben. Ich habe viel von meinem alten ‚Maestro‘, Walter Godefroot [früher Teamchef des Teams Telekom], gelernt. Er sagte damals zu mir: Das Wichtigste ist das Fundament deines Hauses. Er meinte damit die engen Mitarbeiter des Teams, sie halten die Mannschaft zusammen. Und sie sind die besten der Welt. Denn Fahrer kommen und gehen. Und das Schöne an unserem Erfolg ist: Wir müssen nicht mehr die Fahrer fragen, die Fahrer fragen uns, ob sie bei uns fahren dürfen.
Selbst als bestes Team der Welt stehen Sie immer wieder vor der kniffligen Aufgabe, neue, potente Sponsoren zu finden. Ist das Ihre größte Herausforderung?
Die Schattenseite des Erfolgs ist: Die Fahrer wollen mehr Geld. Dazu kam, dass Quick Step entschieden hat, nicht mehr Hauptsponsor sein zu wollen, was bedeutet, dass das Budget sinkt. Ich musste also einen neuen Hauptsponsor gewinnen. Glücklicherweise habe ich einen neuen gefunden [den Fenster-Hersteller Deceuninck], und das nur ein paar Kilometer von meiner Haustür entfernt.
Sie mussten auch aus finanziellen Gründen starke Fahrer wie Niki Terpstra, Fernando Gaviria oder den aufstrebenden Deutschen Maximilian Schachmann ziehen lassen. Können Sie diese Lücke schließen?
Ich denke, es ist sehr wichtig, in junge Fahrer zu investieren. Die Jungs sind die Champions von morgen. Ich denke da an Fahrer wie den Niederländer Fabio Jacobsen, solchen Fahrern gehört die Zukunft. Solche Fahrer zu fördern, zahlt sich aus.
Johan Museeuw sorgte mit seinem Dopingfall aber auch für eine dunkle Stunde in Ihrer Teamgeschichte. Er hat gesagt, dass zu seiner Zeit alle gedopt hätten und nun alle gestehen sollten. Was sagen Sie dazu?
Er hat gesagt, was er gesagt hat. Nur er ist dafür verantwortlich. Ich denke, dass wir aufhören müssen, immer über Doping im Radsport zu reden. Denn es gibt noch andere Sportarten: Die Hälfte der Weltklassesprinter in der Leichtathletik ist gesperrt. Und selbst im Fußball gibt es verpasste Dopingkontrollen. Aber niemanden interessiert das. Lassen wir die Vergangenheit hinter uns! Die Medien haben den Froome-Fall kreiert. Chris Froome wurde nicht positiv getestet, aber ihr Medien habt ihn positiv geschrieben. Und dieser Fall, den ihr erst zu einem gemacht habt, hat dazu geführt, dass ich keine weiteren Sponsoren gefunden habe. Ich war bei großen Unternehmen und wurde nach Froome gefragt. Ich musste ohne Deal wieder heimgehen.
Einige Teams beklagen die Dominanz der ASO, die die Tour de France und zahlreiche weitere Rennen organisiert, die Mannschaften aber nicht nach deren Wünschen an den Gewinnen beteiligt. Muss der Radsport sein Geschäftsmodell ändern?
Wenn man einen Film machen möchte, braucht man Schauspieler. Ohne Schauspieler kein Film. Das sind im Radsport die Fahrer, sie sind wichtig. Das habe ich der ASO gesagt. Dort hat man mir gesagt, dass die Rennen die Fahrer groß machen. Damit bin ich nicht einverstanden. Der Kuchen ist größer geworden, und ich denke, wir verdienen uns unseren Teil des Kuchens. Die Rennveranstalter und die Teams sollten zusammen daran arbeiten, dass der Kuchen größer wird. Stattdessen versucht man, uns klein zu halten. Ohne die Werksteams wird selbst die Tour de France zu einem kleinen Rennen.
Patrick Lefevere, Jahrgang 1955, war von 1976 bis 1979 mäßig erfolgreicher Radprofi. Später gab er zu, mit Amphetaminen gedopt zu haben. 1980 wechselte er die Seiten und wurde Sportdirektor, zunächst bei kleineren Teams, später beim legendären Mapei-Rennstall. Aus einer Fusion mit einer belgischen Mannschaft ging 2003 sein aktuelles Team hervor, das mehrfach den Namen wechselte. Die belgische Tageszeitung "Het Laatste Nieuws" berichtete über ein von dem Belgier organisiertes Dopingprogramm in seinem Team, kassierte dafür vor Gericht aber eine Niederlage und musste eine hohe Summe Schadensersatz an Lefevere zahlen, der die Vorwürfe bestreitet.
Das Interview führte Joscha Weber.