EGMR-Urteil: Passive Sterbehilfe erlaubt
5. Juni 2015Der Fall des Franzosen Vincent Lambert entspricht vielen ähnlich gelagerten Schicksalen in Europa. Das Urteil ist deshalb so interessant, weil es in den europäischen Ländern sehr unterschiedliche Gesetze zur Sterbehilfe gibt. Das Urteil könnte die Position von Ärzten und Angehörigen stärken, die unnötiges Leiden beenden wollen, wenn die Situation ausweglos erscheint.
Der Fall
Seit rund sieben Jahren liegt der heute 38-jährige Vincent nach einem Motorradunfall im Wachkoma, lediglich durch künstliche Ernährung am Leben erhalten. Die Familie war darüber zerstritten, ob die lebenserhaltenden Maßnahmen beendet werden dürfen. Das Gericht in Straßburg erlaubte die passive Sterbehilfe, obwohl von Vincent Lambert keine eigene schriftliche Patientenverfügung vorlag. Der Wunsch der Ehefrau nach einem Ende des Leidens stand gegen den Willen der Eltern.
Bedeutung des Urteils
Die Urteile, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fällt, gelten zunächst nur als so genannte "feststellende Urteile", so Carsten Kalla von der Abteilung Europarecht an der juristischen Fakultät Bonn. Der Gerichtshof in Straßburg stellt zunächst einmal nur fest, ob und inwieweit ein bestimmter Sachverhalt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Im Fall Vincent Lambert kamen zwölf der 17 Richter zu der Überzeugung, dass die Einstellung künstlicher Ernährung nicht gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. Begründet wurde die Entscheidung vor allem damit, dass die französische Justiz alle medizinischen und ethischen Aspekte des Falls sorgfältig abgewogen habe.
Auf absolute Sorgfalt und auf eine intensive Auseinandersetzung mit einem Komapatienten würde es bei einem ähnlich gelagerten Fall also künftig für alle ankommen, die sich auf den Fall Lambert und das Urteil beziehen wollen.
Das Urteil heißt damit auch nicht automatisch, dass ein bestimmtes Gesetz sofort nichtig ist oder neue Gesetze eingeführt werden müssen. In Frankreich gilt, dass es Ärzten überlassen ist, lebenserhaltende Maßnahmen abzubrechen, wenn sich der Patient nicht mehr selbst mitteilen kann. Dabei wird es mit dem Urteil vom EGMR wohl bleiben.
Signalwirkung des Urteils für übrige europäische Länder?
Weil die Europäische Menschenrechtskonvention ein völkerrechtlich bindender Vertrag ist, den die Mitgliedsstaaten des Europarates unterzeichnet haben, könnte das Urteil auch Sterbehilfe-Regelungen anderer europäischer Länder beeinflussen. Der Anwalt von Lamberts Ehefrau, Laurent Pettiti, äußerte schon, dass andere Länder, bei ihren Gesetzen das Urteil und die französische Regelung als Beispiel nutzen könnten. Eine Verpflichtung dazu gibt es zunächst nicht. Allerdings dürfte jedes verantwortlich handelnde Land in Europa das Urteil als eine Art Leitplanke ansehen. Konkret könnten die Befugnisse und Rechtspositionen von Ärzten und Angehörigen in Fragen der Sterbehilfe gestärkt werden.
Der Meinung schließt sich David Schneider-Addae-Mensah an. Der Rechtsanwalt aus Karlsruhe mit dem Arbeitsschwerpunkt "Menschenrechte" kennt den Gerichtshof seit vielen Jahren. "Die Urteile werden in aller Welt sehr beachtet."
Zunächst müssten alle juristischen Instanzen im eigenen Land ausgeschöpft sein, dann stünde jedem Bürger eines Landes im Europarat das Recht zu, sich auf dem Wege einer "Individualklage" ebenfalls an den Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden. Auch Länder mit restriktiver Handhabung von Sterbehilfe könnten von künftigen Klagen gegen bestehende Regelungen betroffen sein. "Kein Staat hat es gerne, wenn er wegen eines Verstoßes gegen die Menschenrechtskonvention angeklagt wird", weiß Schneider-Addae-Mensah aus seiner Praxis. Im Urteil aus Straßburg allerdings fehle eine klare Handlungsanweisung, einen bestimmten Missstand im französischen Recht zu beseitigen. Eine allgemeine und grundsätzlich länderübergreifend bedeutsame Einordnung zum Thema Sterbehilfe fehle auf den ersten Blick auch, sodass kein automatischer, direkter Handlungsimpuls für andere europäische Länder gegeben sei. "Aber als Leitlinie, als Handlungsanleitung kann das Urteil aus Straßburg schon dienen".
Rechts-Dschungel in Europa
Das Problem für Betroffene von Pflegefällen ist: Jede Form von Sterbehilfe ist in Europa anders geregelt. Unterschieden wird zum Beispiel zwischen Beihilfe zur Selbsttötung wie etwa dem Bereitstellen von tödlichen Medikamenten, die der Patient selbst einnehmen muss und indirekter Sterbehilfe, bei der Schmerzmittel höher dosiert werden unter Billigung lebensverkürzender Wirkungen. Diese Form gilt in den meisten Ländern, egal ob in Italien, Spanien, Irland oder Ungarn als legal.
Die aktive Sterbehilfe, also das Töten auf Verlangen, ist in den meisten Ländern streng verboten. So auch in Deutschland und in der Schweiz. Im Alpenland ist aber die Beihilfe zum Suizid erlaubt. Diese Beihilfe verbieten allerdings wieder Norwegen und Dänemark. In Schweden gelten Ausnahmeregelungen für Privatpersonen.
Die liberalsten Regelungen haben in den letzten Jahren die Benelux-Staaten geschaffen. In den Niederlanden (seit 2001), in Belgien (seit 2002) und Luxemburg (seit 2009) darf aktiv Sterbehilfe geleistet werden. Die Bedingungen dafür sind wieder in Einzelregelungen nachzulesen: Mal müssen Patienten ihren Sterbewunsch nur wiederholt vortragen, mal schriftlich niedergelegt haben. Mal müssen Ärzte unabhängig voneinander geprüft und bestätigt haben, dass ein Leiden unheilbar ist.
Passive Sterbehilfe wie das Abschalten lebenserhaltender Maschinen haben Frankreich und Österreich erlaubt. Das katholisch geprägte Polen allerdings hält sich zu allen Formen der Sterbehilfe zurück. Eine europaweit einheitliche Regelung zum Thema Sterbehilfe ist nicht abzusehen. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können die Diskussionen nur teilweise begleiten, meinen Anwälte, die sich täglich mit der Thematik befassen.