Pariser Randgebiete im Ausnahmezustand
3. November 2005
In zahlreichen Vororten lieferten sich Randalierer in der Nacht zum Donnerstag erneut Auseinandersetzungen mit der Polizei und setzten dutzende Autos in Brand. In Aulnay-sous-Bois im am schwersten betroffenen Département Seine-Saint-Denis nordöstlich der französischen Haupstadt besetzten Jugendliche vorübergehend eine Polizeiwache und versuchten, sie in Brand zu setzen.
Ebenfalls in Aulnay überfielen Jugendliche ein Fernsehteam, nahmen den Journalisten ihr Auto ab und steckten es in Brand. In Bobigny verwüsteten rund 40 vermummte Angreifer ein Einkaufszentrum und griffen Verkäuferinnen an. Im Vorort Clichy-sous-Bois, wo die Krawalle am Donnerstag vergangene Woche begonnen hatten, blieb es dagegen verleichsweise ruhig.
Flucht in den Tod
Auslöser für die Unruhen war der Tod zweier Jugendlicher, die vor der Polizei fliehen wollten. Sie hatten die Schutzwand eines Transformatorenhäuschens überklettert und dort tödliche Stromschläge erlitten. Ein dritter Junge erlitt schwerste Verbrennungen. Die Polizei bestreitet, dass die Jugendlichen zum Zeitpunkt des Unglücks verfolgt wurden.
In Clichy-sous-Bois kam es daraufhin zu Straßenschlachten zwischen aufgebrachten Jugendlichen und der Polizei. In den folgenden Tagen griffen die Unruhen auf weitere Pariser Vororte über. Diese werden hauptsächlich von Einwanderern aus Nord- und Schwarzafrika bewohnt. Viele Jugendliche dort sind frustriert, weil sie keine Arbeit haben und sich von der französischen Gesellschaft missachtet fühlen.
Tränengasgranate in Moschee explodiert
Am Sonntag hatte sich der Konflikt weiter zugespitzt, nachdem in einer Moschee in Clichy-sous-Bois eine Tränengasgranate explodiert war. Muslimische Gläubige erklärten, Polizisten hätten die Granate in ihr Gotteshaus geworfen. Innenminister Nicolas Sarkozy kündigte eine Untersuchung an.
Sarkozy hatte als Reaktion auf die Ausschreitungen speziell ausgebildete Polizisten in die Problembezirke entsandt und eine "Null-Toleranz-Politik" angekündigt. Die Opposition übte scharfe Kritik an Sarkozy. Auch in der eigenen konservativen Regierung gibt es einen offenen Streit Innenminister Sarkozy und dem Minister für die Förderung der Gleichberechtigung, Azouz Begag, um die scharfe Wortwahl. Begag übte heftige Kritik an Sarkozy, der die Rebellierenden als "Abschaum" bezeichnet hatte.
Kritik an Sarkozys "Null-Toleranz-Politik"
Der Regierungsbeauftragte für Chancengleichheit, Azouz Begag, warf Sarkozy "kriegerische Worte" vor. Dies sei nicht der richtige Weg, mit den Gewaltausbrüchen fertig zu werden. Notwendig sei vielmehr eine Beseitigung der Diskriminierung, unter der Jugendliche mit Migrationshintergrund litten.
Offene Kritik, die nicht ohne Konsequenzen blieb: Einige Sarkozy-Anhänger der Regierungspartei UMP forderten umgehend den Rücktritt von Begag. Dieser stand daraufhin für ein Interview mit DW-WORLD nicht mehr zur Verfügung.
"Das Inakzeptable nicht akzeptieren!"
Sarkozy verteidigte seine Haltung in einem Interview der Zeitung "Le Parisien" (Mittwochsausgabe). Versuche, den Problemen in den Vorstädten vor allem mit Sozialarbeit zu begegnen, seien gescheitert.
"Man hat oft das Inakzeptable akzeptiert. Die herrschende Ordnung ist zu häufig die der Banden, der Drogen, der Drogenhändler", sagte Sarkozy. Zugleich räumte er ein, die größten Probleme seien das Gefühl der Ausgeschlossenheit und die hohe Arbeitslosigkeit in den Einwanderervierteln.
Späte Reaktion des Staatspräsidenten
Staatspräsident Jacques Chirac äußerte sich erst am Mittwoch zu den Unruhen. "Jeder muss das Gesetz beachten, jeder muss seine Chance haben", so seine zweideutige Mahnung. In den sozialen Problemvierteln müsse "das Gesetz streng geachtet werden, allerdings in einem Geist des Dialogs und des Respekts", sagte der Staatschef. Innerhalb eines Monats solle das Kabinett über neue Vorschläge zu mehr Chancengleichheit beraten.
In Clichy-sous-Bois sind seit sechs Tagen mehr als 400 Beamte im Einsatz. Innenminister Nicolas Sarkozy war am Dienstag mit Gemeindevertretern und Jugendlichen zusammengetroffen, um in den sozialen Brennpunkten einen Dialog zwischen Behörden und Bevölkerung zu fördern.