Paralympische Propaganda
2. August 2016Heinrich Popow möchte sich eigentlich zurückhalten, doch dann scheint es aus ihm herauszuplatzen. "Natürlich gilt für jeden Athleten erstmal die Unschuldsvermutung", sagt der Paralympics-Sieger von 2012 über 100 Meter. "Aber wenn bei einem Sportler zweifellos Doping nachgewiesen wird, dann muss er bluten. Dann bin ich für ein lebenslanges Startverbot." Auf dem Podium neben ihm wirken die Führungskräfte des Deutschen Behindertensportverbandes DBS etwas befremdet nach dieser Aussage. Die Pressekonferenz vor den Paralympics, die am 7. September in Rio beginnen, wird lange von einem Thema dominiert: staatlich organisiertes Doping.
Seit Monaten wird über manipulierte Proben in Russland diskutiert. Weniger beleuchtet wurde der Behindertensport, dabei haben die Ermittler der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA unter der Leitung des kanadischen Anwalts Richard McLaren auch dazu Fakten zusammengetragen: Zwischen 2012 und 2015 seien 643 positive Proben verschwunden, um russische Athleten in rund 30 Sportarten zu schützen. Darunter waren 35 Proben aus dem paralympischen Sport. Um welche Sportarten es sich handelt, wollte das Internationale Paralympische Komitee IPC auf Nachfrage nicht mitteilen. Zusätzlich sind den Ermittlern 19 verdächtige Proben zur weiteren Untersuchung übermittelt worden. Sie wurden bei den Paralympics 2014 entnommen, die nach Olympia in Sotschi stattfanden.
Auf Distanz zum großen Bruder IOC
"Das IPC hat eine historische Möglichkeit, eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Doping nicht nur durch Worte, sondern durch Taten zu belegen", sagte Friedhelm Julius Beucher, Präsident des DBS. Das IPC hatte die Suspendierung des Nationalen Paralympischen Komitees Russlands bereits vor einigen Tagen eingeleitet, die Entscheidung wird in dieser Woche getroffen. Sollte das IPC die Russen für die Weltspiele von Rio und darüber hinaus ausschließen, würde es auf Distanz zum Internationalen Olympischen Komitee gehen. Das IOC entschied sich gegen einen kompletten Olympia-Ausschluss.
Im Deutschen Behindertensportverband hat man sich nach der Veröffentlichung des McLaren-Reports früh gegen die Russen positioniert. In der Zentrale des Deutschen Olympischen Sportbundes war man darüber nicht erfreut, schließlich folgte dessen Präsident Alfons Hörmann in gewundenen Worten der Haltung seines Vorgängers Thomas Bach, der nun an der Spitze des IOC weltweit Kritik erhält. "Viele Menschen blicken inzwischen sehr kritisch auf sportliche Großveranstaltungen", sagt Karl Quade, Chef de Mission des deutschen Paralympics-Teams. "Wenn es um Sponsoren geht, sitzt das IPC noch immer am Katzentisch. Mit etwas Mut kann das IPC eine zukunftsfähige Entscheidung treffen, auch mit Blick auf die Finanzierung unseres Spitzensports." Das IPC könnte sich als standhaft darstellen, während das IOC eingeknickt ist.
Menschen mit Behinderung werden in Russland ausgegrenzt
Im paralympischen Sport ist Russland nicht so einflussreich wie in den olympischen Disziplinen, das hat historische Gründe. Die Kommunisten hatten Militärparaden und Massensport für Mobilisierung und Propaganda genutzt, die vermeintlich Schwachen wurden abgeschottet. 1980 fanden die Olympischen Spiele in Moskau statt. Damals weigerte sich die Sowjetunion, auch die Paralympics zu organisieren. Erst unter Michail Gorbatschow durften Menschen mit Behinderung 1987 im Fernsehen gezeigt werden.
Doch zu einem Wandel führte das nicht. Noch heute werden Kleinkinder mit einer Behinderung in drei Kategorien eingeteilt. Nach diesem 1932 eingeführten Modell wird entschieden, für welche Bildung sie geeignet sind und welche Arbeit sie später verrichten können. Viele Jugendliche werden mit Gleichaltrigen in spartanischen Heimen untergebracht. Wegen fehlender Wartung und Schutzvorkehrungen sind einige Einrichtungen in Brand geraten. Dutzende Menschen starben.
Mit dem Geld von Oligarchen
Das Nationale Paralympische Komitee Russlands wurde erst 1995 gegründet. Dessen Präsident ist seit bald 20 Jahren Wladimir Lukin, ein Vertrauter Putins und ehemaliger Duma-Abgeordneter, bis 2014 war er zehn Jahre lang Menschenrechtsbeauftragter im Kreml. Mit Blick auf die Paralympics in Sotschi erhielten Lukin und seine Mitstreiter den Auftrag, den Behindertensport zu professionalisieren. Putin plante für 2014 ein menschenfreundliches Sportfest. Der Westen sollte erkennen, dass Russland auch seine Minderheiten ernst nehmen würde.
Mit staatlichen Mitteln und Förderungen von Oligarchen organisierte das NPC die Sichtung von tausenden Menschen mit einer Behinderung. Bei den letzten drei Winter-Paralympics gewann Russland jeweils die meisten Medaillen. In Sotschi sammelten die Gastgeber 80 Medaillen, mehr als dreimal so viel wie der Zweitplatzierte: Die Ukraine holte 25. Putin zeigte sich in Sotschi immer wieder mit Paralympics-Startern, das russische Fernsehen übertrug erstmals die Wettkämpfe. Etliche Athleten hatten ihre Behinderung als Soldaten davon getragen, zum Beispiel im Tschetschenienkrieg, andere durch Unfälle und Krankheiten.
"Man muss auch auf andere Länder schauen"
Wurden diese Sportler gegen ihr Wissen gedopt, um die Medaillendominanz der Russen erst möglich zu machen? Schon während der Spiele 2014 waren Gerüchte im Umlauf. Mitteleuropäische Verbände wunderten sich, warum die russischen Paralympics-Teilnehmer einen gesonderten Raum für die Abnahme der Dopingproben zur Verfügung hatten. Das Unbehagen verschwand, das dominierende Thema war die gerade vollzogene Annektierung der Krim.
Heinrich Popow und seine deutschen Kollegen waren überrascht über das Ausmaß der Ermittlungen. "Doch man muss auch auf andere Länder schauen", sagt er. "Wenn ich internationalen Sportlern erzähle, dass wir in Deutschland manchmal für unangekündigte Proben früh morgens aus dem Bett geholt werden, dann zeigen die uns den Vogel. Das kennen die gar nicht, und da sind auch Sportler aus Europa dabei." Spätestens jetzt hat die Dopingdebatte auch die entlegenen Ecken des Behindertensports erreicht.