Papst-Reise: das Leid der Indigenen Kanadas
23. Juli 2022"Wir erwarten von Papst Franziskus eine Entschuldigung. Die Menschen erwarten das." Die 64-jährige Evelyn Korkmaz schaut im Gespräch mit der Deutschen Welle gespannt auf den an diesem Sonntag beginnenden Kanada-Besuch des katholischen Kirchenoberhaupts. "Mein Volk erwartet eine Entschuldigung."
Vor mehr als 50 Jahren hatte Korkmaz ihre persönliche Leidensgeschichte mit der katholischen Kirche. Es ist das Leid von zigtausenden Kindern der First Nations, der indigenen Bevölkerung Kanadas. Als Zehnjährige kam Evelyn Korkmaz in die St. Anne's Residential School in Fort Albany im Norden der Provinz Ontario, ganz in der Nähe mehrerer Reservate. Sie durchlitt vier Jahre. Es habe dort, berichtet sie, "einen elektrischen Stuhl" gegeben, Kinder seien in Zwangsjacken gesteckt worden. Und sie erlebten Missbrauch, Vergewaltigungen, auch den Tod.
Erschütternde Berichte
Immer neue Berichte über das Schicksal der indigenen Kinder in den sogenannten Residential Schools - internatsartige Schulen, die ausschließlich Kinder aus indigenen Familien aufnahmen und zwangsweise umerziehen wollten - sowie deren Aufarbeitung erschüttern Kanada seit vielen Jahren.
Ein Teil der Schulen, auch das St. Anne's bis zu seiner Schließung 1976, wurde kirchlich geführt, denn weite Teile der Bevölkerung waren katholisch. Was den Schulen, ob in staatlicher oder kirchlicher Trägerschaft, gemeinsam war: Tausende Übergriffe auf Schülerinnen und Schüler und eine auffallend hohe Sterblichkeitsrate. In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche anonyme Gräberfelder entdeckt.
Am vergangenen Sonntag äußerte sich Papst Franziskus beim üblichen Mittagsgebet auf dem Petersplatz zu seinem anstehenden Besuch. Es handele sich um eine "Reise der Buße". Er wolle nach Kanada "besonders, um im Namen Jesu die indigenen Völker zu treffen und zu umarmen".
Der Papst spricht von einer "Reise der Buße"
Eine "Reise der Buße", das kann auch eine Entschuldigung bedeuten, aber eindeutig ist das nicht. Die Reise des Franziskus wirkt wie eine Reise zu den Indigenen. Klar, es wird in Quebec auch Begegnungen mit den Repräsentanten des Staates geben. Aber der Papst besucht mehrere der ehemaligen Schulen, einmal wird er nach Iqaluit weit oben im Norden fliegen, mehrfach stehen Begegnungen mit Delegationen der indigenen Völker oder mit ehemaligen Schülern einer Residential School auf dem Programm.
"Wenn er keine Entschuldigung im Namen der Kirche ausspricht, werden die Menschen enttäuscht sein", sagt Korkmaz der DW. Dann bliebe das ganze ein "Propaganda-Event". Aber sie erwarte auch "konkrete Schritte, konkretes Handeln. Eine Entschuldigung, das sind ja am Schluss auch nur Worte". So solle der Vatikan Dokumente bezüglich der Residential Schools, die bei der Glaubenskongregation aufbewahrt würden, endlich veröffentlichen.
Damit würden konkretere Zahlen benannt und die indigenen Völker erführen mehr über ihre Geschichte. "Und vielleicht können wir mehr der namenlosen Kinder identifizieren, deren sterbliche Überreste seit 2021 in Gräberfeldern auf Schulgrundstücken in verschiedenen Gegenden Kanada gefunden wurden", sagt Korkmaz.
Seit den 1990er Jahren bemüht sich die kanadische Regierung um eine Aufarbeitung des Schicksals der indigenen Kinder in den Residential Schools. Bald folgte auch die katholische Kirche. Vertreter der Indigenen besuchten bereits 2009 den Vatikan und trafen Papst Benedikt XVI. (2005-2013), der aber selbst nie nach Kanada reiste. Ende März und Anfang April dieses Jahres traf Franziskus im Vatikan an drei Tagen Delegationen der Indigenen. Der Papst sprach zum Abschluss in einer Ansprache die "Berichte über Leiden, Entbehrungen, diskriminierende Behandlung und verschiedene Formen des Missbrauchs" in den Internaten an.
"Es tut mir leid", sagte der Papst
Er empfinde "Schmerz und Scham" für die Rolle, die "verschiedene Katholiken" dabei gespielt hätten. "Für das beklagenswerte Verhalten dieser Mitglieder der katholischen Kirche" bitte er Gott um Vergebung. Und er wolle "von Herzen sagen: Es tut mir sehr leid." Das ist vielen Menschen wie Evelyn Korkmaz aber zu wenig. Sie erwarten eine Entschuldigung, die der Verantwortung der gesamten Kirche als System gerecht wird, nicht nur das Versäumnis einzelner Katholiken anspricht.
Dabei ist der Umgang mit den Indigenen Kanadas, ist die Betroffenheit typisch und prägend für das 2013 begonnene Pontifikat dieses Papstes, und die jetzige Reise verdeutlicht auch noch einmal einen Unterschied zu seinem Vorgänger. Bei Franziskus steht die Nähe zu den Menschen am Rand der Gesellschaft erkennbar immer wieder im Zentrum seiner Aktivitäten. Dazu gehörten in seinen ersten Amtsjahren gelegentliche Zwischenstopps an ärmlichen Roma-Siedlungen am Stadtrand der italienischen Hauptstadt, bei seinen Auslandsreisen legt er stets Wert auf solche Begegnungen.
Zuletzt hatte der nun 85-Jährige wegen seiner angeschlagenen Gesundheit zwei Auslandsreisen absagen müssen, die ihn in den Libanon und in zwei krisengeschüttelte afrikanische Länder, Kongo und Süd-Sudan führen sollten. Über viele Wochen zeigten Fotos meist Bilder des Papstes im Rollstuhl - eines seiner Knie bereitete ihm zu viele Schmerzen. Auch das in Kanada anstehende Tagesprogramm ist erkennbar übersichtlicher als der Fahrplan früherer Papstreisen. So landet er am Sonntag gegen Mittag Ortszeit aus Rom kommend in Edmonton und hat nach einer kurzen Begrüßung am Flughafen keinen weiteren Termin mehr.
"Anzeigen, nicht vertuschen"
Evelyn Korkmaz, die in Ottawa lebt, engagiert sich in vielfältiger Weise für die Aufarbeitung von Gewalt gegen Minderjährige. In Kanada brachte sie eine Initiative auf den Weg, die ehemalige Schüler kirchlicher Einrichtungen und Opfer von Missbrauch durch Geistliche bei der Bewältigung von Traumata unterstützt. Auf internationaler Ebene gehört sie zu den Mitbegründern der Initiative "Ending Clergy Abuse" (ECA). Zu ihren Forderungen gehört es, dass Priester und Kirchenleute, die Missbrauch begehen, konsequent angezeigt werden, dass sie nicht versetzt und ihre Taten nicht vertuscht werden.
Ihre Erwartungen vor der Kanada-Reise des Papstes gehen über ihr Heimatland und die Missbrauchsthematik hinaus. Sie hoffe darauf, dass Franziskus kirchliche Lehraussagen über die "Entdeckung" von Regionen in Amerika, Afrika, Asien überdenke. "Sie haben doch vielfach einfach unser Land, das Land der Indigenen, genommen und uns als Heiden abgestempelt." Aber das Land indigener Völker gehöre nicht irgendjemand anderem, nirgends in der Welt.
Es geht ihr um ein Muster. Auf der ECA-Website schaut die jüngste Veröffentlichung bereits in eine andere Region. Da geht es um "Macht, Missbrauch und Vertuschung in neuseeländischen Schulen". Angeprangert wird dabei auch die Beteiligung des katholischen Maristen-Ordensgemeinschaften.