Panische Angst vor Abschiebungen
11. Februar 2017Deutsche Welle: Die Bundesregierung will abgelehnte Asylbewerber schneller abschieben, zentral organisiert. Wie reagieren Betroffene?
Maria Shakura: Mit Panik. Sie haben große Angst, dass es zu ungerechtfertigten Abschiebungen kommt, dass sie keinen Rechtsbeistand haben, wenn sie zentral konzentriert werden, wo sie vielleicht nicht rauskommen, keine Kontakte haben.
Für wie berechtigt halten Sie diese Angst?
Nach der Entwicklung im Asylrecht in den vergangenen zwei Jahren halte ich sie für sehr berechtigt.
Von 22 Menschen, die ich gerade beraten habe, haben sieben Ablehnungen im Asylverfahren. Sie haben panische Angst. Es dauert lange, bis man erklärt hat, dass die Ablehnung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht gleichzusetzen ist mit sofortiger Abschiebung, sondern dass man eine 14-tägige Klagefrist hat - mit aufschiebender Wirkung - und dann eine zweite Gelegenheit vor Gericht bekommt. Das glauben viele nicht. Sie haben Angst, dass sie über Nacht aus den Betten geholt werden.
Ich habe einen jungen afghanischen Familienvater beraten. Die Frau ist schwanger mit dem vierten Kind, der Mann ist Anfang 20. Er sagte mir, er wird sich umbringen, damit wenigstens seine Frau und Kinder eine Chance haben. Er hatte gehört, dass alleinerziehende Frauen mit Kindern nicht nach Afghanistan abgeschoben werden.
Ein Einzelfall extremer Angst?
Nein, Angst ist kein Einzelfall. Die Einzigen, die nicht so große Angst haben, sind Menschen aus Ländern, wo relativ klar ist, dass sie zumindest einen subsidiären Schutz erhalten - Syrer oder Eriträer. Selbst Iraker haben schon Ablehnungen erhalten.
Es gab zwei Sammelabschiebungen nach Afghanistan. Sie beraten rund 200 Flüchtlinge aus Afghanistan - was bewegt sie?
Die Menschen sind wirklich verzweifelt. Sie verstehen nicht, warum ein Land, in dem seit 40 Jahren Krieg herrscht, plötzlich eines sein soll, in das man zurück kann. Die Sicherheitslage hat sich - so auch die Einschätzung der Vereinten Nationen - zuletzt dramatisch verschlimmert.
Zehn Jahre lang wurden tatsächlich nur Straftäter dorthin abgeschoben, sieben bis neun Personen im Jahr. Die Afghanen hatten das Gefühl: "Man lässt uns hier in Sicherheit leben." Jetzt haben viele Panik, weil die Entscheidungen des Bundesamtes nicht mehr nachvollziehbar sind.
Gerade war ein junger Mann hier, der mit seiner Tante geflüchtet ist. Die Frau hat als Lehrerin gearbeitet und ist von den radikalislamischen Taliban bedroht worden. Ich glaube, dass aus dieser Familie nur sie und ihr Neffe überlebt haben, alle anderen sind tot.
Dem Neffen wurde aufgrund schwerster Traumatisierung ein Abschiebeverbot erteilt, die Tante aber wurde abgelehnt. Sie ist schwer psychisch krank, das ist auch dem Bundesamt bekannt gewesen. Davon steht leider im Bescheid kein Wort. Die Beiden verstehen die Welt nicht mehr. Ich denke, dass man das im Klageverfahren durch Atteste klären kann, aber für so schwer traumatisierte Menschen ist das doppelt schlimm.
Welche Erfahrungen schildern Ihnen andere Flüchtlinge aus Afghanistan?
Es sind vor allem schwerste Übergriffe der Taliban: Menschen, die miterlebt haben, wie das ganze Dorf überfallen wurde. Aber auch solche, die gezielt angegriffen wurden.
Ein Mann, der in einer Telekommunikationsfirma gearbeitet hat, wurde von den Taliban verschleppt und so lange misshandelt, bis er sich einverstanden erklärte, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie luden ihn halbtot auf der Straße ab. Er hat in heilloser Panik das Land verlassen.
Jugendliche sagen oft erstmal gar nicht viel, weil der tägliche Horror für sie Normalität ist. Erst wenn ich nachfrage, sagen sie: "Ja klar, die Taliban haben mich aus dem Bus geholt und halbtot geschlagen. Weil Flugzeuge kamen, liefen sie weg. Sonst hätte ich das wohl nicht überlebt." Bei anderen wurde der Onkel vermisst. Nach einer Woche fand man seinen Kopf, sein Körper blieb verschwunden.
Viele kennen das nicht anders: auch dass Mädchen verschleppt und zwangsverheiratet werden. Sie sagen: Es gibt keinen Schutz - die Regierung ist korrupt. Sie kann oder will die Bevölkerung nicht schützen. Auch die Terrormiliz IS macht zunehmend Jagd auf Menschen. Sehr viele Flüchtlinge aus Afghanistan sind traumatisiert oder anderweitig krank. Die meisten fürchten, dass sie bei Rückkehr in Lebensgefahr geraten. Ich halte das in den meisten Fällen für sehr nachvollziehbar.
Die neue BAMF-Chefin Jutta Cordt und Innenminister Thomas de Maizière sprechen von "inländischen Fluchtalternativen": Gebiete in Afghanistan, die als "vergleichsweise sicher" gelten. Was sagen Sie dazu?
Ich würde denen raten, das mal selbst auszuprobieren - und zwar ohne Eskorte und schusssichere Weste -, dann würden sie ihre Meinung schnell ändern. Ich gehe davon aus - das sieht auch der UNHCR so -, dass es in Afghanistan für die meisten Menschen keine inländische Schutzalternative gibt. Einige wenige könnten vielleicht in ihre Herkunftsregion zu ihrer Familie zurückkehren.
Als sicher bezeichnet wird Bamiyan, das afghanische Hochland, und Panjshir. Doch das sind ethnisch homogene Gebiete. Im bitterarmen Bamiyan können nur Hazara überleben, die dort Familie haben. In Panjshir sind Hazara und Paschtunen völlig ausgeschlossen.
Auch in den Städten Kabul, Masar-i-Sharif und Herat ist die Situation immer schlechter geworden - mit immer mehr Binnenvertriebenen aus immer neuen Kriegsgebieten. Kabul besteht zu großen Teilen aus Elendsquartieren.
Afghanistan ist nicht so anonym wie Europa. Wer dort sein angestammtes Wohngebiet verlässt, fällt als Fremder auf und wird sofort von den Taliban-Strukturen gefunden.Wer westliche Ideen vertritt wie Schulbildung für Mädchen oder gar beim Erzfeind im Westen Schutz gesucht hat, gerät ins Kreuzfeuer der Taliban.
Gefährdet die Abschiebepolitik der Regierung Menschenleben?
Auf jeden Fall.
Die Regierung verweist darauf, dass 2016 rund 3000 Menschen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind.
Hinter Freiwilligkeit setze ich ein Fragezeichen. Der Druck ist sehr groß. Manche sehen, dass es aussichtslos ist, Ehepartner oder Kinder nachholen zu können und ziehen dann den möglichen Tod einem auf ewig getrennten Leben vor. Ich habe auch Syrer gehabt, die wegen ihrer Familie ins Kriegsgebiet zurückgegangen sind. Auf dem Papier ist das eine freiwillige Rückkehr, aber sie ist im Grunde erzwungen, weil die geschützte Aufnahme in Deutschland unmöglich gemacht wird.
Wie gut können Menschen ihre Erfahrungen im Asylverfahren wiedergeben?
Ohne Vorbereitung fast gar nicht. Selbst sehr gut Gebildete brauchen eine gute Vorbereitung, um alles sortiert, zusammenhängend, detailreich und widerspruchsfrei dem Anhörer zu schildern. Die meisten afghanischen Flüchtlinge sprechen das allererste Mal über extrem belastende Erfahrungen - im Wissen, dass davon das Leben ihrer ganzen Familie abhängt.
Bei afghanischen Behörden spricht man nur, wenn man gefragt wird, man trägt nicht frei vor. Ich kriege manchmal die schlimmsten Gräueltaten in fünf Sätzen geschildert: Da ist Jugendlichen vor ihren Augen der Bruder von den Taliban abgeschlachtet worden. Oder die halbe Familie wurde umgebracht und sie waren dabei. Wenn jemand das so knapp im Bundesamt erzählt, ist ihm die Ablehnung ziemlich sicher.
Afghanischen Flüchtlingen wird oft mangelnder Detailreichtum vorgeworfen. Sie würden erzählen, wenn sie ruhig und freundlich gefragt würden, aber Anhörungen laufen im Moment wie am Fließband, mit unglaublichem Zeitdruck. Da wird gesagt: "Uns interessiert nicht Ihre ganze Lebensgeschichte, erzählen Sie, was in den zwei Monaten vor der Ausreise passiert ist." Die Leidensgeschichte hat aber meist während der Taliban-Herrschaft begonnen.
Häufig gibt es keine passenden Dolmetscher: Farsi und Dari sind zwei Sprachen, ein iranischer Dolmetscher kann nicht zwingend einen Afghanen verstehen und umgekehrt. Außerdem sind Anhörer oft nicht mehr die Entscheider. Diese kennen nur die Protokolle, nicht die Menschen, die vieles ja nicht beweisen können: Türkische Folterkeller haben auch keine Bescheinigungen herausgeben. Ohne persönlichen Eindruck aber kann man eigentlich keine Entscheidung fällen.
Eine Zentralisierung bei Asylverfahren und Abschiebungen wäre kein guter Weg?
Nein. Zentralisierung führt dazu, nicht individuell zu gucken sondern pauschal, am Fließband. Das kann nicht richtig sein, wenn es um menschliche Schicksale geht.
Wie sollten Abschiebungen Ihrer Ansicht nach geregelt werden?
Nach Afghanistan gar nicht, weil das ein Kriegsland ist, wo es lebensgefährlich ist. Das gilt auch für Somalia und den Irak. Es ist schockierend, dass selbst Jesiden, die Massenmorde überlebt haben, in den Irak abgeschoben werden sollen, weil sie angeblich nach Mossul könnten.
Maria Shakura ist Flüchtlingsberaterin bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe in Wuppertal. Die Diakonie ist der Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen in Deutschland.
Das Interview führte Andrea Grunau.