Palermo: Große Bühne für zugewanderte Kinder
12. September 2021Als der "Regenbogen-Chor" zum ersten Mal nach dem Lockdown der letzten Monate wieder proben durfte, war die Aufregung aller Teilnehmenden greifbar. "Lauter", rief der Maestro seinen Sängerinnen und Sängern zu. Dabei schnippte er enthusiastisch mit den Fingern. Die Motivationsarbeit - fast unnötig. Mit breitem Grinsen sang sich der Chor durch den Soundtrack eines Italienischen Films.
Der Chor gehört zum "Teatro Massimo", dem berühmten, riesigen Opernhaus der sizilianischen Metropole Palermo. Er vereint Kinder aus den verschiedensten Ländern der Welt. Sie alle stammen aus den von Migration geprägten Vierteln der Stadt, kommen ursprünglich aus Rumänien, den Philippinen oder Bangladesch. Die Teilnahme am Chor hat bereits das Leben vieler benachteiligter Kinder stark verändert. Nach der langen Zeit des Lockdowns sind die jungen Sängerinnen und Sänger ganz versessen darauf, endlich wieder anfangen zu dürfen. "Wenn ich singe, fühle ich mich wie neu geboren", beschreibt die 11-jährige Carmela ihre Emotionen. "Gerne würde ich mal professionelle Opernsängerin werden, ins Konservatorium gehen", so die junge Ghanaerin.
Mehr als nur ein Chor
Das Teatro Massimo und das Consulta delle Culture, ein Gremium, das Migranteninteressen vertritt, haben den Chor 2014 ins Leben gerufen. Ursprünglich gedacht, um die Eltern der Kinder in die Oper zu bekommen, ist das Singen für viele beteiligte Jugendliche zu einer Überlebensstrategie geworden.
Die Initiative ist Teil der visionären Strategie von Palermos Oberbürgermeister Leoluca Orlando, den viele fast schon als legendär bezeichnen. In den Achtziger und Neunziger Jahren hatte er das Amt schon einmal inne - damals gelang es ihm, die Macht der Mafia in Palermo entscheidend einzuschränken. Jetzt will er, dass Palermo zu einem Leuchtturmprojekt bei der Umsetzung von Immigrantenrechten wird.
Nur wenige Städte in Italien haben eine solche Willkommenskultur gegenüber Zugewanderten wie Palermo. 127 verschiedene Länder sind in der Stadt vertreten, die Gesamtanzahl der Ausländer hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdreifacht - auf 24.000. Palermo ist Italiens ethnisch vielfältigste Stadt. Die Altstadt ist voll mit mehrsprachigen Straßenschildern, ob auf italienisch, hebräisch oder arabisch. Die alte Architektur zeugt davon, dass Palermo schon früher Anziehungspunkt für Menschen verschiedenster Kulturräume war: Maurisches mischt sich mit Normannischem und Byzantinischem.
Zugereiste fühlen sich oft benachteiligt
Doch die italienische Bürokratie sieht sich auch mit vielen undokumentiert im Land lebenden Ausländern konfrontiert. Von 600.000 Personen war 2020 die Rede - geschätzt. Viele der Betroffenen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Wer keine Arbeit und keine Aufenthaltsgenehmigung hat, wird in illegale Beschäftigungsverhältnisse gezwungen und hat somit keinen Zugang zur gesetzlichen Gesundheitsversorgung und sonstigen Sozialleistungen, sagt Ibrahima Kobena, der Präsident von "Consulta delle Culture".
Ebenfalls problematisch sei das italienische Staatsbürgerschaftsrecht, demzufolge nur Kinder, die mindestens einen italienischen Elternteil haben, von Geburt an die italienische Staatsbürgerschaft erhalten. Carmela, die zwar in Italien geboren wurde und bei italienischen Pflegeeltern lebt, wird vor ihrem 18. Geburtstag keinen italienischen Pass erhalten.
Der Regenbogen-Chor hilft dabei, gesellschaftliches Gleichgewicht herzustellen. "Italiener fühlen sich sonst als die Chefs", sagt Angela Assare, 13 Jahre alt und ebenfalls aus Ghana. "Wenn du eine andere Hautfarbe hast, wirst du schlecht behandelt. Hier im Chor sind wir alle gleich, uns wird klar, dass wir keine Tiere sind".
Ein Booster fürs Selbstbewusstsein
Ganzen Familien hat der Chor positiven Auftrieb gegeben. Davon kann auch Rudy Chateau berichten. Er kam aus Mauritius nach Palermo, als undokumentierter Flüchtling Anfang der 2000er Jahre. Mit seinem nicht angemeldeten Job als Parkplatzwächter gelang es ihm zunächst, rund 500 Euro pro Woche für seine Familie zu verdienen.
Rudy und seine Frau Stephanie verzichteten teils auf Mahlzeiten, um stattdessen ihr Kind Niguel füttern zu können. Heute haben sie beide eine Arbeitserlaubnis und einen sicheren Job. "Als der Dirigent Niguel den Platz im Chor anbot und wir dann zum ersten Mal im Theater waren, war das einfach….wow", sagt Stephanie. "Wir waren so stolz".
Und der Chor ist nur eine von vielen Maßnahmen, von denen Zugezogene in Palermo profitieren sollen. Orlando selbst bezeichnete die von Italien vergebenen Aufenthaltstitel als "eine neue Form der Sklaverei" und bot Neuankommenden stattdessen eine "Ehrenbürgerschaft" an. 2018 setzte er sich über die Anordnung des damaligen Innenministers Matteo Salvini hinweg und verzichtete darauf, den Hafen der Stadt für Flüchtlingsschiffe zu schließen.
Populismus macht es dem Bürgermeister schwer
Doch das Projekt könnte gefährdet sein: Die rechtspopulistische Bewegung von Matteo Salviniwird auf Sizilien immer stärker, gleichzeitig wird Orlando zu den Kommunalwahlen im Frühjahr 2022 nicht mehr antreten. Hierbei geht es auch um die Immigrationspolitik. Die Lega Nord von Salvini könnte die stärkste Kraft im konservativen Lager werden.
Gleichzeitig hat Orlandos Popularität Dellen bekommen. Palermo ist wirtschaftlich nicht so durch die Pandemie gekommen, wie sich das viele gewünscht hätten - viele hatten den Eindruck, Chaos regiere im Rathaus. Zwei Stellvertreter von Orlando traten zurück. In einer Umfrage der Zeitung "Il Sole 24 Ore", die die Beliebtheit von 105 italienischen Bürgermeistern ermittelte, landete Orlando auf Platz 103.
Letzten Sommer machten viele im historischen Zentrum der Stadt ihrem Ärger Luft. Ottavio Pensionato, 70 Jahre alt, sagt: "Palermo ist nicht mehr, wie es mal war. Zu viele Fremde hier, und wir kommen nicht mehr klar". Francesco Paolo, 30 Jahre alt und arbeitslos, beklagt: "Orlando hat uns im Stich gelassen. An die echten Palermitaner denkt er nicht. Salvinis erste Sorge dagegen gilt den Italienern - deshalb kriegt er meine Stimme".
Ibrahima Kobena von "Consulta delle Culture" macht sich Sorgen um die Zukunft: "Seine Vision wird nicht fortgeführt werden, wie es scheint. Und das bedeutet: Das Palermo, das er geschaffen hat, wird sterben." Ein Sieg für die Populisten würde wohl das Ende des vielleicht ambitioniertesten Integrationsprojekts im Mittelmeerraum bedeuten. Der Regenbogen-Chor ist und bleibt Leoluca Orlandos Vermächtnis. "Wir kommen zwar aus verschiedenen Ländern", sagt Carmela, "und wir haben verschiedene Stimmen. Aber zusammen haben wir eine gemeinsame, noch schönere Stimme".
Dieses Projekt wurde mit der Unterstützung von The GroundTruth Project realisiert. Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt.