Deutschlands "Eiserner Kanzler"
1. April 2015Es ist ein Gemälde, das für viele Deutsche mit Otto von Bismarck geradezu verschmolzen ist: Deutsche Generäle und Fürsten in dunklen Uniformen stehen im Spiegelsaal des französischen Schlosses Versailles und jubeln mit gestreckten Armen dem deutschen Kaiser Wilhelm I. zu. Doch nicht der Monarch ist im Zentrum des Bildes zu sehen. Dort steht Otto von Bismarck, zusätzlich hervorgehoben durch eine weiße Uniform.
Das Gemälde glorifiziert den 18. Januar 1871 - jenes Datum, das als Gründungstag des deutschen Kaiserreichs gilt; als 25 Einzelstaaten unter der Führung Preußens zu einem Staat vereint wurden. Und es wird der Politik Bismarcks zugeschrieben, dass die über Jahrhunderte währende deutsche Kleinstaaterei damals überwunden wurde.
Die Deutschen ehrten ihn dafür überschwänglich mit einem regelrechten Personenkult: Landauf und landab gibt es ihm zu Ehren Bismarck-Denkmäler, Bismarck-Türme, Bismarck-Steine, Bismarck-Straßen, Bismarck-Eichen und andere Dinge, die bis heute an den "Eisernen Kanzler" erinnern. Schüler lernen, Bismarck habe nicht nur Deutschland geeint, er habe in seiner Zeit als Reichskanzler von 1871 bis 1890 auch das allgemeine Wahlrecht und soziale Sicherungssysteme wie Krankenversicherung, Unfallversicherung und Rentenversicherung eingeführt.
Es gibt jedoch auch Stimmen, die in Bismarck den Kriegskanzler mit Pickelhaube und einen Wegbereiter des deutschen Militarismus sehen. Immerhin ebneten erst die Kriege gegen Dänemark 1864, gegen Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870/1871 den Weg zur Reichsgründung. Alle drei Kriege bereitete Bismarck als damaliger Ministerpräsident Preußens politisch vor.
Auch aus anderen Gründen steht Bismarck in der Kritik: Er wird verantwortlich gemacht für die staatliche Verfolgung von Sozialisten, für eine unterentwickelte parlamentarische Kultur im Deutschland des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie für die Errichtung deutscher Kolonien in Afrika und Asien.
Bismarck als Projektionsfläche
War Bismarck nun also ein deutscher Superheld oder ein Superschurke? Der Düsseldorfer Historiker Christoph Nonn bezeichnet den Kanzler "als eine Projektionsfläche für eine positive oder negative Wertung deutscher Nationalgeschichte" und plädiert für eine andere Sichtweise. Die Reichsgründung beispielsweise sei keine rein deutsche Angelegenheit gewesen und erst recht kein Einzelwerk Bismarcks, sagt Nonn, Autor des Buchs "Bismarck - ein Preuße uns sein Jahrhundert". "An diesem langwierigen und komplexen Prozess waren sehr viele Akteure beteiligt - in Deutschland, aber auch im Ausland. Indem was sie getan haben oder nicht getan haben. Zum Beispiel indem sie nicht versucht haben, diese Einigung Deutschlands zu verhindern."
Bismarck sei auch nicht allein für die drei Kriege vor der Reichsgründung verantwortlich, so Nonn. Überhaupt sei Bismarck kein Militär und kein Aggressor gewesen. Vielmehr habe er auf Verhandlungen gesetzt. Ähnlich sieht das der Historiker Arnd Bauerkämper von der Freien Universität Berlin: Bismarck habe sich erst in seinen 1890 verfassten Memoiren, "selber ein Stück zum Kriegskanzler stilisiert".
Dennoch unterstreicht Bauerkämper im DW-Interview: "Die grundsätzliche Legitimität von Kriegen stand für Bismarck außer Frage." Aber sowohl Nonn als auch Bauerkämper betonen, dass das deutsche Kaiserreich mit seinem Kanzler Otto von Bismarck keine Gebietsansprüche mehr gestellt, sondern eine ausgewogene Außenpolitik verfolgt habe, um sich auf die wirtschaftliche Entwicklung im Inland konzentrieren zu können.
Das Paradoxon der Kolonialpolitik
Doch wie passt dann die Kolonialpolitik in dieses Bild? Hatte Bismarck nicht immer wieder betont, das Deutsche Reich brauche keine Kolonien? Und trotzdem ließ er es keine 15 Jahre nach Reichsgründung zu, dass das Kaiserreich in Afrika und Asien sogenannte Schutzgebiete errichtete.
"Es ging nicht wirklich um die Kolonien. Die Kolonien waren Mittel zum Zweck in einem Machtkampf, der in Berlin geführt worden ist", ist Historiker Nonn überzeugt. Der konservative Bismarck habe seinen politischen Gegner, die Liberalen, und deren Sympathisanten, Kronprinz Friedrich, schwächen wollen. Die Liberalen waren mit dem englischen Königreich verwoben, das wiederum aktiv Kolonien errichte. Um in diese Allianz einen Keil zu treiben, so Nonn, habe Bismarck 1884 und 1885 dem bereits seit Jahrzehnten währenden Ruf nach deutschen Kolonien vorübergehend nachgegeben.
Aber 1885 wurden die Liberalen durch verlorene Wahlen als politische Kraft geschwächt und im selben Jahr versicherte Kronprinz Friedrich, auch nach einem Tod von Kaiser Wilhelm an Bismarck festzuhalten. "Von da an hat Bismarck die Episode der Kolonialpolitik auch sofort wieder beendet", sagt Nonn. Sein Kollege Bauerkämper schreibt Bismarck ebenfalls eine zögerliche Kolonialpolitik zu: "Er wollte dort Reibungen mit den anderen europäischen Großmächten vermeiden und möglichst ausgleichen."
Demokratie zugunsten der Konservativen ausgebremst
Im Inland dagegen stand für Bismarck nicht immer der Ausgleich oder ein Dialog im Mittelpunkt. Das 1871 gegründete Deutsche Reich war zwar eine konstitutionelle Monarchie, aber das Parlament hatte kaum Einfluss auf die Regierungspolitik, Parteien hatten es schwer. Bismarck betrachtete die wachsende politische Arbeiterbewegung sogar als "Reichsfeind". Mit dem Sozialistengesetz verbot er de facto sozialdemokratische Parteien.
Auch die Einführung der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung ist auf Bismarcks ablehnende Haltung der Arbeiterbewegung zurückzuführen. "Die Sozialreformen sollten den Sozialdemokraten, Unterstützung entziehen und dem neuen deutschen Staat die Loyalität der Bevölkerungsmehrheit und der wachsenden Arbeiterklasse sichern", sagt der Berliner Historiker Bauerkämper.
Die Machtlosigkeit des Parlaments war durch die Verfassung besiegelt. Da Bismarck einer der Verfassungsautoren war, schreibt Biograf Nonn es auch dem ersten deutschen Kanzler zu, dass der Reichstag von 1871 bis zum Ende des Kaiserreichs und zur Ausrufung der Republik 1918 nie in der Verantwortung stand. "Diese Mentalität der Verantwortungslosigkeit war nach 1918, als der Reichstag dann wirklich Macht in Deutschland hatte, schwer abzuschütteln. Das war eine schwere Hypothek für die erste deutsche Demokratie, für die Weimarer Republik", sagt Nonn.
Bismarck als Garant für Frieden und Wohlstand
Und dennoch erinnern dieser Tage in Deutschland demokratisch gewählte Politiker an den vor 200 Jahre geborenen ersten Reichskanzler. Das Bild Bismarcks habe sich in den vergangenen 30 bis 40 Jahren eher ins Positive gedreht, stellt Historiker Bauerkämper fest. Und sein Düsseldorfer Kollege Nonn zieht zwischen der Reichsgründung 1871 und der Deutschen Wiedervereinigung 1990 Parallelen: Beide Male habe es in Europa die Angst gegeben, dass Deutschland weiter expandieren wolle. Und wie nach 1871 habe Deutschland auch 1990 versichert, keine territorialen Ansprüche zu stellen. "Da ist dieselbe Politik der Beruhigung der europäischen Nachbarn betrieben worden." Es sei Bismarcks größte außenpolitische Leistung, "dass das neu gegründete Deutsche Reich keine Kriege geführt hat - für mehr als 40 Jahre".