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Osteuropäische Freiheitsbewegung

Rosalia Romaniec17. Juni 2013

Vor 60 Jahren gingen in der DDR die ersten Arbeiter gegen das kommunistische Regime auf die Straße. Heute sieht man den 17. Juni als Beginn eines Prozesses bis hin zur friedlichen Revolution 46 Jahre später.

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Menschen tanzen nach der Wiedervereinigung auf der Berliner Mauer (Foto: AP Photo/Thomas Kienzle)
Bild: AP

Zur Zeit des Aufstandes war Peter Klinkenberg 19 Jahre alt und lebte seit Kurzem im West-Teil von Berlin. "Das stalinistische Regime konnte nicht meine Zukunft sein, also hatte ich Ost-Berlin verlassen, um an der Freien Universität zu studieren", erzählt er heute. Den Kontakt zu Freunden im Osten hielt er aber ununterbrochen - so wie viele andere auch hoffte er auf Veränderungen.

1952 kam es in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verstärkt zur Verstaatlichung von Industriebetrieben, zur Enteignung des privaten Einzelhandels sowie zur Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Stimmung in der Bevölkerung wurde immer schlechter, den "Marsch in den Sozialismus" wollten viele nicht mitgehen. Hinzu kamen Anfang der 50er Jahre eine ernste Versorgungskrise sowie massive staatliche Repressionen. "Man wollte das Regime zum Teufel jagen, aber keiner wusste, wie", sagt Klinkenberg und ergänzt: "Wir Deutsche haben schließlich nie gelernt, Widerstand zu leisten."

Panzer rollen an

Als er Mitte Juni 1953 hörte, in Ost-Berlin würde es bald zu Protesten kommen, wollte er dabei sein. "Am frühen Morgen des 17. Juni beschlossen wir mit ein paar Studenten, die Vorlesungen an der Universität zu schwänzen und fuhren mit der S-Bahn nach Ost-Berlin. Wir wussten, irgendetwas wird passieren."

Geschichte Deutschland/17.Juni 1953 Geschichte Deutschland Der Aufstand am 17. Juni in Ostberlin. Der Potsdamer Platz am Mittag des 17.Juni. Demonstranten werfen mit Steinen nach sowjetischen Panzern. Aufnahme vom 17.6.1953.
Proteste am 17. Juni 1953 am Potzdamer Platz in BerlinBild: picture-alliance / akg-images

Klinkenberg erinnert sich noch gut an die ersten Gerüchte, dass Arbeiter aus dem Stahlwerk Hennigsdorf im Norden von Berlin in die Stadt kommen sollten, um gegen das Regime zu demonstrieren. "Gegen Mittag rollten dann kettenrasselnd Panzer über die Prachtstraße 'Unter den Linden', und dahinter liefen sowjetische Soldaten", erzählt der Zeitzeuge. "Sie schossen mit Kalaschnikows in die Luft, und man musste in Deckung gehen, denn überall flogen Splitter."

Am Abend kehrte der Student nach Westberlin zurück. "Wir hatten Angst, dass die Sektorengrenze zugesperrt würde und man nicht mehr herauskäme." Erst in den Wochen danach begriff er die Dimension des Aufstands. In der ganzen DDR protestierten damals bis zu eine Million Menschen gegen das kommunistische Regime und die Sowjetisierung des Landes. Sie forderten freie Wahlen. Mindestens 55 Menschen kamen bei dem Aufstand ums Leben - von Volkspolizisten und sowjetischen Soldaten erschossen, an Verletzungen verstorben, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hunderte wurden mit Zwangsarbeit in Sibirien bestraft.

Tradition des Widerstandes

Die Frage, warum der Volksaufstand des 17. Juni keine starke Opposition in der DDR hervorbrachte, erklärt Peter Klinkenberg vor allem mit der deutschen Erfahrung der NS-Gewalt und einer fehlenden Tradition des Widerstandes. Außerdem habe auch die innerdeutsche Sicht eine Rolle gespielt. "Geistig hat man sich seit den 60er Jahren in der Bundesrepublik überhaupt nicht mehr groß dafür interessiert, was in Ostdeutschland vor sich geht. Das war eine deprimierende Erfahrung", sagt er. Nach dem 17. Juni 1953 schienen die Deutschen resigniert zu haben.

Ganz anders im östlichen Nachbarland: "Die Widerstandstradition der Polen begann schon im 19. Jahrhundert mit den Aufständen gegen die Teilung des Landes, setzte sich im Untergrundstaat im Zweiten Weltkrieg fort und endete mit Solidarnosc und 1989", meint der Historiker Martin Kirsch von der Berliner Humboldt-Universität. Und der polnische Publizist Adam Krzemiński weist auf einen weiteren Unterschied hin: Viele Menschen in der DDR hätten bis in die späten 1980er Jahre an einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz geglaubt, während die Polen das Regime insgesamt ablehnten und einen zweiten Untergrundstaat aufbauten. Dies habe zwar Jahrzehnte lang gedauert, aber schließlich zum Umsturz des Systems geführt.

Lech Wałęsa beim Streik in Danzig 1980 (Foto: dpa)
Lech Wałęsa beim Streik in Danzig 1980Bild: picture-alliance /dpa

Aus heutiger Perspektive sehen Historiker die Volksaufstände als Prozess in einem europäischen Kontext. Was 1953 begann, endete 1989 als friedliche Revolution in der DDR, sagt Martin Kirsch und zählt die Etappen auf: zuerst 1953 in der damaligen Tschechoslowakei der Arbeiteraufstand in den Pilsener Skodawerken, im gleichen Jahr dann der Volksaufstand in der DDR. Es folgten die Proteste in Ungarn 1956, der Prager Frühling 1968 und 1970 Proteste in Polen. Weitere zehn Jahre später kam es dann, nach dem Streik 1980 in den Werften in Danzig, zur Gründung der Gewerkschaft "Solidarność" unter der Führung von Lech Wałęsa.

Antwort auf das Erbe der Französischen Revolution

Auch wenn alle diese Ereignisse ihre Eigendynamik und ihre Besonderheiten hatten - für Adam Krzemiński sind sie vor allem in einem gesamteuropäischen Kontext zu verstehen: "Die friedliche Revolution Osteuropas ist die Antwort auf das Erbe der Französischen Revolution." Früher, so der polnische Publizist, hätten Revolutionäre auch selbst auf Gewalt als Mittel zum Zweck gesetzt.

200 Jahre später habe man im Gegensatz dazu friedlichen Widerstand geleistet. Auch Martin Kirsch betont, dass die Gewalt bei den Aufständen seit 1953 nicht von den Kämpfenden ausging, sondern nur von den Machthabern. Und das sei einen neue Erfahrung für Europa gewesen, sagt der Historiker.