Jemens stilles Sterben
18. Oktober 2018Den Geschmack von frischem Gemüse, von Fleisch und Obst - viele Menschen im Jemen erinnern sich wohl kaum mehr daran. Zwar mangelt es auf den Märkten nicht an Nahrungsmitteln; es sind jedoch die Preise, die sich ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr leisten kann.
"Es ist alles teurer geworden", schreibt Mirella Hodeib vom Internationalen Roten Kreuz in Sanaa auf Anfrage der Deutschen Welle. Hodeib darf in Sanaa nicht mehr auf die Straße, seit eine Arbeitskollegin im April erschossen wurde. "Meine jemenitischen Kollegen erzählen allerdings, dass Reis, Bohnen, Eier und Öl exorbitant im Preis gestiegen sind", so Hodeib, die nun seit über einem Jahr im Jemen arbeitet.
Bomben, Inflation und noch mehr Hunger
Seit 2014 herrscht im Jemen Bürgerkrieg. Dieser ist im Lauf der vergangenen dreieinhalb Jahren zu einem ausgewachsenen Stellvertreterkrieg geworden. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate wollen den von den Huthi-Rebellen vertriebenen jemenitischen Präsidenten Abd-Rabbu Mansur Hadi wieder an die Macht bringen. Der Iran unterstützt dagegen die Huthi-Milizen, die mittlerweile große Teile des Nordjemens, die Hauptstadt Sanaa und die wichtige Hafenstadt Hodeidah kontrollieren. Letztere gilt als Eingangstor für Hilfsgüter und Nahrungsmittel.
Seit Kriegsbeginn hat die arabische Allianz 17.000 Luftangriffe auf die Gebiete der Huthi-Milizen gestartet. Im September sollte es Friedensgespräche geben, doch dazu kam es nicht. Nun fallen die Bomben weiter, die Lebensmittelpreise steigen, und die Angst vor "der tödlichsten Hungerkrise seit 100 Jahren" wächst. Mit diesem Superlativ versuchen Hilfsorganisationen die Dringlichkeit der Krise in die Öffentlichkeit zu bringen.
Neubewertung der Krise
Knapp 30 Millionen Einwohner hat der Jemen. 8,5 Millionen versorgt das UN-Ernährungsprogramm mit Nahrungsmitteln. Die Vereinten Nationen gehen von einer halben Million jemenitischer Kinder aus, die stark unterernährt sind.
Laut der britischen Tageszeitung "Guardian" sind die bisher veranschlagten UN-Hilfsleistungen unter den neuen Umständen nicht mehr ausreichend. "Zehntausende Familien, die sich vor einigen Wochen mit Mühe noch etwas kaufen konnten, können sich nicht mehr selbst ernähren", zitiert die Zeitung Lise Grande, die ständige UN-Koordinatorin im Jemen. Man sei mit Hunderttausenden, vielleicht Millionen Menschen konfrontiert, deren Überleben nicht mehr sicher sei, so Grande.
Auch Herve Verhoosel, der Sprecher des UN-Ernährungsprogramms, rechnet damit, dass weitere dreieinhalb Millionen Menschen ohne Unterstützung an der Schwelle zu "Hungersnot-ähnlichen-Zuständen" stünden, so Verhoosel vor zwei Tagen in Genf. Die UN brauche deshalb mehr Geld. Die schwierige Sicherheitssituation verhindere außerdem, dass Hilfslieferungen auch wirklich zu den Menschen kommen könnten.
Kämpfer statt Ärzte und Lehrer
Vor dem Krieg war der Staat der größte Arbeitsgeber. Doch nun fließen kaum noch Gehälter. Außerdem liegt die Privatwirtschaft am Boden. Laut dem Internationalen Währungsfonds hat sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Vergleich zu 2014 mehr als halbiert. Schon vor dem Konflikt war der Jemen eines der ärmsten Länder der Welt.
Die Huthi-Regierung bezahlt zwar ihre Kämpfer, Beamte und Lehrer aber nicht. Ärzte und Arzthelfer halten sich nur durch die Unterstützung von Organisationen über Wasser. Was bei Angriffen zerstört wird, kann kaum noch aufgebaut werden. "Nur noch 45 Prozent der sanitären Anlagen im Land funktionieren", schreibt Hodeib. Es käme vermehrt zu eigentlich vermeidbare Krankheiten wie Cholera, Diphtherie, Masern.
Politische Lösung oder Geld?
Angesichts der sich zuspitzenden Lage suchen die Vereinten Nationen nach neuen Wegen. Laut Lisa Grande sei es am schnellsten und effektivsten, arme Familien nun mit Geld zu unterstützen. "Dann können sie sich kaufen, was sie brauchen. Wir wollen deshalb unsere Cash-Programme ausweiten." Schon heute bekommen rund eine Million Menschen Einkaufs-Gutscheine.
"Die Krise kann nicht mit Geld gelöst werden. Die Lösung liegt in der Beendigung des Krieges", sagt dagegen Suze van Meegen von der Nichtregierungsorganisation Norwegian Refugee Council dem Guardian. Die Menschen würden sich bereits jetzt "in großen Mengen" zu Tode hungern. Van Meegen kritisiert die Regierungen: Es läge eine gewisse Doppelmoral darin, auf der einen Seite mehr Geld für humanitäre Hilfe bereitzustellen und auf der anderen Seite Waffen an Saudi-Arabien zu liefern.
Im Sommer hatte US-Präsident Donald Trump milliardenschwere Exportverträge mit amerikanischen Rüstungsunternehmen vermittelt. Auch Deutschland genehmigt weiter Waffenlieferungen in das Land. "Wir können die humanitäre Krise nicht beenden", schreibt Mirella Hodeib vom Internationalen Roten Kreuz: "Die Hilfsorganisationen können weder die Millionen hungrigen Jemeniten versorgen, noch können wir das Gesundheitssystem des Landes stellen." Dafür benötige es ein abgestimmtes Vorgehen der Politik.