West-Eastern Divan Orchestra
25. August 2011Auf der Bühne in der Kölner Philharmonie herrscht ein wahrhaft babylonisches Sprachengewirr. Junge Musiker aus Israel, Palästina, Ägypten und dem halben Nahen Osten, Durchschnittsalter Mitte 20, diskutieren kurz vor der Probe noch über letzte Unklarheiten im Notentext. Doch sobald Daniel Barenboim die Bühne betritt und den Taktstock hebt, finden die jungen Musiker des West-Eastern Divan Orchestra schnell eine gemeinsame Sprache: die Musik, in diesem Falle Beethoven. Alle neun Symphonien des Meisters stehen in fünf Konzerten in der restlos ausverkauften Philharmonie auf dem Programm.
Anlehnung an Goethe
1999 hatten der argentinisch-israelische Dirigent Daniel Barenboim und der inzwischen verstorbene palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said erstmals junge israelische und arabische Musiker zu einem Workshop in Weimar zusammengebracht. In Anlehnung an Goethes Gedichtsammlung "West-östlicher Divan" gründeten die beiden Freunde daraufhin ein Orchester, um Brücken zwischen Völkern zu schlagen, die sich bis dahin nie richtig kennenlernen konnten.
Barenboim betont zwar stets, dass er die Ziele seines Projekts als unpolitisch verstanden wissen will, doch bei dem ambitionierten völkerverbindenden Projekt bleibt es nicht aus, dass Kunst und Politik aufs Engste miteinander verbunden sind. "Dahinter steckt die Idee, ein Forum zu schaffen, in dem junge arabische und israelische Menschen mit Begeisterung für die Musik zusammenkommen und sich austauschen können", erklärt Barenboim. "Das gab es ja sonst so gut wie nicht." Am Anfang war es für Barenboim lediglich ein Versuch, doch zwölf Jahre nach seiner Gründung ist das West-Eastern Divan Orchestra längst zu einem überaus erfolgreichen Projekt geworden. Die Arbeit mit den Musikern sei für ihn ein großes Geschenk, betont Barenboim immer wieder.
Syrer und Israelis gemeinsam am Pult
Viele Israelis treffen beim Orchester zum ersten Mal auf einen Araber - und umgekehrt. Etwa, wenn ein Syrer ins Orchester eintritt und als Pultnachbarn einen "Feind" vorfindet. "Anfangs sieht er in ihm wahrscheinlich ein Monster", erzählt Barenboim, "doch wenn sie dann miteinander musizieren, dann sehen sie den 'Feind' doch etwas anders. Sechs, sieben Stunden Proben schaffen gemeinsame Erfahrungen, Ziele, Gefühle und vor allem Respekt voreinander."
Klar, in politischen Fragen ist man nicht immer einer Meinung, doch für viele ist die Arbeit im West-Eastern Divan Orchestra ein wichtiger Fixpunkt in ihrem Leben geworden. Und nicht selten bilden sich hier Freundschaften, die ohne das Orchester wahrscheinlich nie entstanden wären. Bewundern muss man aber vor allem den Mut der jungen Musiker, in diesem Orchester mitzuspielen: "Viele von ihnen werden in ihren Heimatländern angefeindet, sagt Barenboim. "Da besteht teilweise sogar Lebensgefahr, weil sie mit dem sogenannten Feind gemeinsam Musik machen."
Konflikt in den Köpfen
Beeindruckt ist der 68-jährige Barenboim von den Umbrüchen in vielen arabischen Staaten: "Es ist ein mutiger Schritt dieser Menschen, für Veränderungen und ihre Freiheit zu kämpfen." Seit der Gründung des Orchesters sei es sein Bestreben gewesen, in den Ländern zu spielen, aus denen seine Musiker stammen. Jahrelang habe er darum gekämpft, in Ägypten oder Syrien spielen zu können. "Es ist uns nicht gelungen, vielleicht haben wir jetzt, mit der arabischen Revolution, endlich eine Chance", hofft er.
Doch auf seinen Optimismus fällt derzeit angesichts der jüngsten Entwicklungen in Syrien und an der israelisch-ägyptischen Grenze ein dunkler Schatten. Vor allem die syrischen Orchestermitglieder verfolgen die Nachrichten über die Gewalt in ihrer Heimat mit Sorge, genauso wie die israelischen und ägyptischen Musiker auf die jüngsten Gewaltausbrüche im Gaza-Streifen mit Entsetzen reagieren. "Dieser Konflikt ist permanent in unseren Köpfen", sagt Barenboim, "wir sind besorgt und haben große Angst vor einer Eskalation der Situation. In unserem Orchester sitzen Musiker aus beiden Ländern friedlich nebeneinander. So unterschiedlich ihre politischen Ansichten auch sind, niemand von ihnen glaubt, dass man diesen Konflikt mit militärischen Mitteln lösen kann."
Politiker in die Musikschule
Musik ist zwar auch keine Lösung, aber mit seinem Versöhnungsorchester zeigt Barenboim, das junge Musiker aus Israel und den anderen Staaten des Nahen Ostens tatsächlich eine gemeinsame Sprache sprechen können - wenn man ihnen nur die Chance gibt, sich kennenzulernen. "Unser Orchester ist ein alternatives Denken zu dem, was im Moment im nahen Osten passiert", betont Barenboim. Denn für ihn sind vor den Beethoven-Symphonien alle gleich und er fügt hinzu: "Alle Politiker sollten in die Musikschule gehen, um etwas Wesentliches zu lernen: Zuhören!"
Jeder Musiker, so seine Erfahrung, höre aufmerksam auf die Stimme des Komponisten und auf die seiner Mitspieler. Nur so könne musikalische Harmonie entstehen. Innerhalb politischer Beziehungen sei es also genauso, findet der Dirigent: "Hier kann sich Harmonie auch nur durch Zuhören entwickeln, indem jeder seine Ohren für die Standpunkte und Schilderungen des anderen öffnet."
Kandidat für den Friedensnobelpreis
Verstanden hat man Barenboims Engagement für Versöhnung jedenfalls überall: in der arabischen Welt und in Europa, wo Barenboim schon 2010 der Westfälische Friedenspreis und jetzt der Toleranzpreis der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste verliehen wurde. Dass er nun auch für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, erfüllt den Dirigenten zwar mit Dankbarkeit, aber er reagiert sehr zurückhaltend. "Dazu möchte ich eigentlich gar nichts sagen", meint Barenboim. "Entweder man bekommt den Preis, dann muss man sich gut überlegen, was man dazu sagt, oder man bekommt den Preis nicht, dann sollte man lieber schweigen."
Autorin: Marita Berg
Redaktion: Suzanne Cords