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Omri Boehm als Mahner: Leipziger Buchpreis verliehen

Philipp Jedicke mit epd, dpa
21. März 2024

Von einem "katastrophalen Versagen" in Nahost sprach der deutsch-israelische Philosoph in seiner Dankesrede. Am Mittwochabend erhielt Omri Boehm den Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung.

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Deutschland | Leipziger Buchmesse | Omri Boehm
Omri Boehm bei der offiziellen Veranstaltung zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse im GewandhausBild: Hendrik Schmidt/dpa/picture alliance

Der deutsch-israelische Philosoph und ehemalige Mitarbeiter des Geheimdienstes Shin Bet sieht Fehler auf allen Seiten im Hamas-Israel-Krieg und hat "katastrophales Versagen" beklagt. "Meine palästinensischen Freunde wissen, dass jeder, der das, was mein Land jetzt in Gaza tut, Selbstverteidigung nennt, meine Identität zutiefst beschämt, die jüdische und israelische", sagte Omri Boehm am Mittwoch in seiner mit viel Beifall bedachten Dankesrede. Zugleich bezeichnete er es als einen "moralischen Bankrott", wenn die Hamas-Massaker vom 7. Oktober bewaffneter Widerstand genannt würden. 

Boehm verwies auf seine jüdisch-palästinensischen Freundschaften. "Freundschaft war immer der Test, der uns vor einem katastrophalen Versagen der Brüderlichkeit und dem Missbrauch abstrakter Ideen über bewaffneten Widerstand und Selbstverteidigung beschützt hat."

Boehm gilt als Verteidiger der Menschenrechte, der von einem gemeinsamen Staat für Juden und Palästinenser träumt. Den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt er für sein Buch "Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität". In der Begründung der Jury hieß es, Boehm verteidige den Kern des humanistischen Universalismus, das Bekenntnis zur Gleichheit aller Menschen, "gegen jede Relativierung". Diese Haltung spiegelte sich auch in seiner Rede in Leipzig wider. Zu Positionen aus Deutschland sagte Boehm: "Was ist mit der deutsch-jüdischen Freundschaft? Da, wo sie besteht, ist sie ein wahres Wunder. Eines, das mir besonders am Herzen liegt." Doch dieses Wunder müsse vor Entwertung geschützt werden. Es könne keine deutsch-jüdische Freundschaft existieren, "wenn sie in diesen dunklen Zeiten keinen Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen."

Wegen der Freundschaft nicht die Wahrheit opfern

Harte Wahrheiten müssten offen ausgesprochen werden. "Denn wir sollen Freunde bleiben." In den ARD-"Tagesthemen" warb Boehm erneut für seine Idee einer bundesstaatlichen Föderation auf dem Gebiet des heutigen Staates Israel und der palästinensischen Gebiete. Diese Idee könne nicht in
naher Zukunft Realität werden. "Es ist ein Ideal des Friedens, das wir bewahren können." Bei der Zwei-Staaten-Lösung gehe es oft darum, die Rechte einer Seite niederzumachen. In einer gemeinsamen bundesstaatlichen Ordnung müsse es "eine gewisse Trennung" geben, allerdings auch eine gemeinsame
Verfassung mit gleichen Rechten. "So lange die Menschen nicht gleiche Rechte bekommen, so lange wird es keinen Frieden geben." 

Omri Boehm sitzt lachend mit einem Headset bei einer Paneldiskussion
Omri Boehm 2022 bei der Frankfurter BuchmesseBild: STAR-MEDIA/IMAGO

Boehm plädiert für Universalismus und gegen Identitätspolitik

Omri Boehm vertritt seine Thesen mit Engagement und erregt damit immer wieder Aufsehen. So beschreibt er in seiner Streitschrift "Israel. Eine Utopie" aus dem Jahr 2020 den Zionismus als unvereinbar mit humanistischen Werten und plädiert dafür, die Staatlichkeit Israels neu zu denken. Statt von einer Zweistaatenlösung spricht er in seiner Utopie von einer israelisch-palästinensischen Föderation - einem Land für beide Völker.

Auch nach dem Terroranschlag des 7. Oktober und dem Ausbruch des Krieges im Nahen Osten bekräftigte Boehm seine Haltung in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Dort sagt er: "Wir haben es mit einer unerträglichen Situation zu tun, wo das Unmögliche notwendig ist. (...) Wir müssen Vorschläge für eine politische Lösung in der Zukunft finden. Die einzige Alternative zum entgrenzten Krieg ist der Kompromiss einer Föderation."

Geheimdienstler und Musterstudent

Boehm wurde 1979 in Haifa geboren und wuchs in dem kleinen Dorf Gilon in Galiläa auf - "geprägt von einer bildungsdeutschen jüdischen Großmutter und einem traditionsbewussten iranisch-jüdischen Großvater", wie ihn die "Jüdische Allgemeine" einmal zitierte. Seinen Militärdienst leistete er beim israelischen Geheimdienst Shin Bet ab. Dank seiner hervorragenden Noten studierte er in Tel Aviv im Rahmen des Adi Lautman Interdisciplinary Program for Outstanding Students und promovierte an der renommierten Yale University in den USA über Kants Kritik an Spinoza.

Mit Deutschland ist er nicht nur durch seine Großmutter eng verbunden. Während seines Studiums verbrachte er einige Zeit in Heidelberg und war 2010 Postdoktorand an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Boehm forschte auch in Berlin und besitzt die deutsche und die israelische Staatsbürgerschaft. Heute lebt Omri Boehm in den USA, wo er seit 2010 eine außerordentliche Professur für Philosophie an der New School for Social Research in New York innehat. Neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit schreibt er in internationalen Zeitungen wie "Haaretz", "Die Zeit" und "The New York Times" über israelische Politik. Boehm ist aber nicht nur für seine klaren politischen Positionen und seine Arbeiten zu Kant, Spinoza und Descartes bekannt.

Boehm setzt Ethik vor Gehorsam

Omri Boehm scheue sich nicht, wie es die Jury des Leipziger Buchpreises im Vorfeld formulierte, "metaphysische Begründungen für den Universalismus einzufordern". Diese finde er "im Brückenschlag zwischen der Philosophie Kants und dem Erbe der biblischen Propheten". Letztgültige Wahrheiten sind nach Boehm auch in modernen Gesellschaften unverzichtbar, "um Gleichheit und Würde des Menschen unantastbar zu machen".

Rauch steigt über Häusern auf nach einem israelischen Angriff auf Rafah im südlichen Gazastreifen
Krieg in Nahost: Für Boehm sind "Vorschläge für eine politische Lösung" essenziellBild: Ismael Mohamad/UPI Photo/IMAGO

So argumentiert Boehm in seinem ersten Buch "Die Bindung Isaaks: Ein religiöses Modell des Ungehorsams" (2007), dass Abraham Gottes Gebot, seinen Sohn Isaak zu opfern, missachtet und stattdessen Ungehorsam begeht. Die Verse, in denen Gott einen Engel schickt, um Abraham in letzter Sekunde die Prüfung zu erklären und ihn von der Tötung seines eigenen Sohnes zu befreien, seien nachträglich eingefügt worden. In der ursprünglichen Fassung der Genesis habe sich Abraham eigenmächtig dem Befehl Gottes widersetzt und statt Isaak einen Widder geschlachtet. Deshalb, so Boehm, sei der Ungehorsam ein Eckpfeiler des jüdischen Glaubens und nicht der Gehorsam.

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird seit 1994 verliehen und zählt zu den bedeutendsten Literaturauszeichnungen in Deutschland. Ausrichter des Preises sind der Freistaat Sachsen, die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Leipziger Messe. Omri Boehm wurde der Preis zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 20. März im Leipziger Gewandhaus verliehen. Die Laudatio hielt die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz, eine Freundin und Weggefährtin Boehms.

Dieser Artikel wurde am 21. März 2024 aktualisiert.