Kunst-Pionier Okwui Enwezor ist tot
15. März 2019Er glaubte an die zeitgenössische Kunst als eine Idee, eine Herangehensweise ohne kulturelle Grenzen. "Egal, ob eine Arbeit von einem chinesischen Künstler, einem englischen Maler, einem deutschen Fotografen oder einem nigerianischen Fotografen stammt - sie gehört zur Sprache der zeitgenössischen Kunst, die überall verstanden wird", sagte er vergangenen Oktober dem Kunstmagazin "art".
Diese Idee wurde zu seinem Programm - und der Nigerianer Okwui Enwezor zum ersten Nicht-Europäer, der 2002 die documenta leitete, die weltweit wichtigste Ausstellungsreihe zeitgenössischer Kunst. Bei "seiner" Documenta11 setzte Enwezor Schwerpunkte bei Migration, postkolonialem Erbe und Globalisierung. Für die dezentralen Perspektiven auf die moderne Kunst wurde er vielfach gelobt.
Vier Jahre später, 2006, kuratierte Enwezor die Biennale für zeitgenössische Kunst in Sevilla, anschließend, von 2007 bis 2008, die Gwangju Biennale in Südkorea. Der Höhepunkt folgte 2015: Enwezor wurde zum ersten in Afrika geborenen Leiter der Biennale von Venedig, der neben der documenta bedeutendsten Schau für zeitgenössische Kunst weltweit.
Doch zunächst war es nicht die zeitgenössische Kunst, die Enwezor bewegte: Sein frühes Interesse galt der Literatur und speziell der Lyrik. Er schrieb eigene Texte und studierte, nachdem er 1982 aus Nigeria in die USA gekommen war, in New York Literatur- und Politikwissenschaften. 1993 gründete er die Zeitschrift "Nka: Journal of Contemporary Art", die zu einem entscheidenden Forum für afroamerikanische Kunst wurde.
Kolonialismuskritische Ausstellungen
Als Kurator machte er sich unter anderem mit der kolonialismuskritischen Ausstellung "African Photographers, 1940 - Present" einen Namen. Sie begleitete 1996 die große Afrika-Ausstellung des Guggenheim-Museums in New York.
Enwezor war nicht nur Kurator und Herausgeber, sondern auch Autor, Kunstkritiker und Korrespondent für zahlreiche Kunstzeitschriften. Er hielt Vorträge und war Gastprofessor und Mitglied vieler internationaler Gremien und Jurys. Als wahrer Weltbürger führten ihn seine Engagements von Ramallah über Kairo, Istanbul, Sevilla, Gwangju, San Francisco, Chicago, Pittsburgh, Illinois bis nach London, New York, Umea und Paris.
Seine internationalen Erfahrungen ließen ihn zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Kunstwelt werden. 2015 positionierte ihn das Magazin "Artreview" in seinem Ranking der weltweit einflussreichsten Menschen in der zeitgenössischen Kunstszene auf Platz 17.
Kindheit von Bürgerkrieg in Nigeria geprägt
Enwezor wurde 1963 in der nigerianischen Hafenstadt Calabar an der Grenze zu Kamerun geboren. Der Sohn eines Bauunternehmers wuchs im Osten des Landes auf. Mehr als 40 Mal musste er mit seiner Familie umziehen - wegen des Bürgerkriegs in seinem Heimatland, dem sogenannten Biafra-Krieg, in dem die christlichen Igbo und die muslimischen Hausa und Fulani nach der Unabhängigkeit von Großbritannien um die Vormachtstellung kämpften. Enwezors Familie gehört zur Volksgruppe der Igbo. Die Erfahrung von Gewalt, Vertreibung und Flucht hat ihn nie losgelassen: "Dieses Gefühl, ständig in Gefahr zu sein, gejagt zu werden. Heute, morgen, den Tag danach. Es war sehr dramatisch, aber meine Familie hat immerhin überlebt, jedenfalls der engere Kreis. Zwei Millionen Menschen starben damals." Enwezor war es immer wichtig, über die Kunst einen Austausch zu schaffen. "Weder gibt es einen einheitlichen 'westlichen Blick', noch eine geschlossene 'nicht westliche' Erfahrung", sagte er "art". Er stand für internationale Kooperationen und globale Themen.
Schwierigkeiten am Haus der Kunst in München
2011 übernahm er die Leitung des renommierten Münchner Hauses der Kunst. Für Enwezor war es das erste Mal, dass er ein Ausstellungshaus dieser Größe alleine betreute und für Ausrichtung und Organisation gleichermaßen verantwortlich war.
In dem monumentalen Bauwerk präsentieren der Freistaat Bayern und die "Stiftung Haus der Kunst" zeitgenössische und moderne Kunst. Das Haus selbst besitzt keine eigene Sammlung. Es ist ein Haus mit historischer Vorbelastung: 1937 eröffnete Adolf Hitler persönlich das Museum als "Haus der deutschen Kunst" und machte es zum Symbol der Gleichschaltung der Kunst im Nationalsozialismus. Enwezor warb für einen unverkrampften Umgang mit der Institution und wollte das Haus "entmystifizieren".
Das gelang ihm unter anderem mit seiner Schau "Postwar: Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945-1965". Darin führte er die Besucher durch 20 Jahre Nachkriegsgeschichte und zeigte, wie Künstlerinnen und Künstler global mit den Traumata von Krieg und Verfolgung, den Migrations- und Fluchtbewegungen, dem Ende der europäischen Kolonialsysteme und den Zeiten von Wiederaufbau und Vergangenheitsbewältigung umgingen.
Das Besondere war dabei der globale Blick, der auch Perspektiven von Menschen aus ehemaligen Kolonialgebieten, Ost, West, Pazifik- und Atlantikregionen berücksichtigte. Für die Schau wurde Enwezor vielfach gelobt und sorgte für internationales Aufsehen. Er habe mit der Ausstellung zu einer Neubewertung der jüngeren Kunstgeschichte beigetragen, hieß es. Der große Besucherandrang blieb allerdings aus. Doch für Enwezor war der Erfolg an der Museumskasse nicht das Wichtigste. "Zeitgenössische Kunst ist etwas Toughes und Herausforderndes, nichts Eingängiges - und das gefällt nicht jedem", kommentierte er.
2014 wurde Enwezor mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Nach sieben Jahren am Haus der Kunst in München legte er Anfang Juni 2018 sein Amt als künstlerischer Leiter nieder. Das Haus und er hatten da schon turbulente Zeiten hinter sich: Massive Geldprobleme wurden bekannt. Auch die Nähe von Angestellten zu Scientology und Fälle sexueller Belästigung sorgten für Schlagzeilen. Der Aufsichtsrat hatte schon vor dem Abschied reagiert und Enwezor einen kaufmännischen Geschäftsführer an die Seite gestellt.
Außerdem kämpfte Enwezor seit mehreren Jahren gegen eine Krebserkrankung. Doch das war nur offiziell der Grund für seinen Abgang, wie er später offenlegte. Enwezor ging nicht ganz freiwillig drei Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit.
Gefühl, "kulturell abgewertet" worden zu sein
Im Interview, das das Magazin "Der Spiegel" im August 2018 veröffentlichte, machte er deutlich, er habe sich vom Haus der Kunst moralisch nicht unterstützt und "kulturell abgewertet" gefühlt.
Die Tatsache, dass er kein Deutsch sprach, sagte er damals, wäre immer wieder betont worden. "Das wird auf erschreckende Weise überbetont. Manche Leute machen sich nicht einmal die Mühe, meinen Namen richtig auszusprechen, aber sie verlangen von mir, deutsch zu sprechen. Es klingt so, als müsste ich erst einmal einen Sprach- und Integrationstest absolvieren, aber das muss ich nicht, ich bin kein Einwanderer, ich habe einen nigerianischen und einen US-Pass. Ich bin gekommen, weil ich darum gebeten wurde. Man holte mich aus New York und stellte mich an, obwohl bekannt war, dass ich kein Deutsch spreche."
Gefahr der Feindseligkeit in der Gesellschaft
"Womöglich passte unsere inhaltliche Ausrichtung nicht ins heutige politische Klima", sagte Enwezor außerdem. "Das politische Klima in diesem Land bringt viele Menschen dazu, all das, was in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurde, aufzugeben. Und das sieht man am deutlichsten am Umgang mit den Flüchtlingen." Im Hinblick auf seine eigene Biografie und die Fluchterfahrungen seiner Familie ergänzte er: "Heute sehen wir so viele neue Katastrophen, Syrien ist nur eine davon, und wenn ich höre, wie über Flüchtlinge gesprochen wird und wie manche daraus nur politisches Kapital schlagen wollen, ist das für mich erschütternd", so Enwezor gegenüber dem "Spiegel".
Im selben Interview machte er auch seine Krebserkrankung öffentlich. "Ich bin immer noch optimistisch und voller Hoffnung", sagte er - und glaubte, dass er der Krankheit trotzen könne. Im Alter von 55 Jahren ist ihr Okwui Enwezor jetzt erlegen.