Odyssee Europa
28. Februar 2010Am Eingang des Essener Grillo-Theaters lassen wir die Realität hinter uns. Einchecken zu einer – freilich gut organisierten - zweitägigen "Irrfahrt", wie es im Programm heißt. Wir erhalten Reiseunterlagen, darunter auch eine Art persönlichen Pass und eine Schlafbrille, wie im Flugzeug, für Momente der Müdigkeit. Die es jedoch kaum geben wird.
Unsere Verkehrsmittel sind ab jetzt Bus, U-Bahn, Schiff. Auch zu Fuß gehen wir. Manche meiner Mitreisenden haben ein Exemplar von Homers "Odyssee" unter dem Arm, ich habe mir eine handliche Neuübersetzung der "Erzählungen des Odysseus" mitgenommen. Homers antiker Held, seine Taten und Untaten, seine Abwesenheit, seine Wiederkehr werden uns ab sofort in vielfältiger Weise beschäftigen.
Odysseus und Currywurst
Rasch sind wir eine Art verschworene Gemeinschaft. Die Stimmung ist gut, man reicht Süßigkeiten herum – "vom Büdchen", wie das hier im Ruhrgebiet heißt. Es gibt Tipps: Wo man die beste Currywurst der Region bekommt. Wo die interessantesten Industriedenkmäler stehen. Was sonst noch los ist im Kulturhauptstadtjahr 2010. Wir fühlen uns rundum gut betreut. Kein Wunder: Homers Epos und seine Schrecken liegen ja in grauer Vorzeit. Bei uns fällt niemand einem wüsten Zyklopen, den Ränken einer Zauberin, oder göttlicher Rache zum Opfer! Doch was draußen in der Welt vorgeht spielt ab sofort keine Rolle mehr. Wir sind hier, um eine Reise in eine Art Zwischenwelt zu unternehmen. Wir lassen uns treiben.
Fremd sein
Odysseus war zwar jahrzehntelang unterwegs, aber hierher ins Ruhrgebiet ist er natürlich nie gekommen. Doch ist er derzeit auf den Bühnen der Region präsent - in sehr unterschiedlicher Gestalt. Als wortloser Beobachter des Geschehens, als namenloser Abwesender, als sehnsuchtsvoll Leidender, als Mörder und Verbrecher. Niemals aber als ein strahlender Held. Alle Stücke reflektieren das Verlassen der Heimat, das Zurückbleiben von Angehörigen, das Warten, das Wiederkommen, das Fremdsein. Doch setzt jeder Autor andere Schwerpunkte.
Väter und Söhne
Der Ungar Peter Nadas nimmt den Krieg mit all seinen Brutalitäten in den Fokus, einen immer wiederkehrenden Alptraum der Geschichte, in dem Menschen getötet werden und verwundete Seelen zurück bleiben. In seinem beeindruckenden und sehr aufrüttelnden Stück "Sirenengesang" - in Mülheim inszeniert von Regielegende Roberto Ciulli - stehen die vaterlos aufgewachsenen Söhne im Mittelpunkt: bindungsunfähige, unreife, gefühllose, gewalttätige – und schwache Jungs.
Der Ire Enda Walsh zeigt vier Männer in Badehosen in einem zugemüllten Swimmingpool. Gestrandete, Gescheiterte. Getrieben von der geradezu irrwitzigen Hoffnung, dass einer von ihnen die wunderschöne Penelope – Odysseus' Frau, die oberhalb in einer schicken Villa residiert – gewinnen könnte. Ein grotesker, ein tödlicher Wettbewerb bricht aus.
Roland Schimmelpfennig fokussiert sich auf Odysseus’ Reise in den Hades und kombiniert Originaltexte mit eigenen zu einem morbiden Gemälde des Totenreichs. Die aus der Türkei stammende Emine Sevgi Özdamar dreht die Geschichte um und stellt in den Mittelpunkt eine junge Frau, die aus der Enge ihrer türkischen Familie ausbricht, nach Europa reist und dort einen Alptraum aus Ablehnung und Ausgrenzung durchlebt. Der polnische Schriftsteller Grzegorz Jarzyna und auch der Österreicher Christoph Ransmayr zeigen den blutrünstigen, den gewalttätigen Odysseus. Eine verbrecherische Vaterfigur, unter deren Einfluss auch der Sohn Telemach zum Mörder wird.
"Mein Odysseus"
Unterwegs lerne ich Beate Fraß kennen, Naturwissenschaftlerin an der Universität Essen. Sie ist - wie die anderen Mitreisenden - vom Programm völlig begeistert: "Es ist toll, man weiß nicht, was kommt, jeder Augenblick ist spannend und alle sind gut gestimmt." Nach so viel Theater um die Figur des Odysseus hat sie nun beschlossen, den Originaltext zu lesen. Dann will Beate Fraß, wie sie sagt, "schauen, wer mein eigener Odysseus eigentlich ist."
Liebe Trojaner!
Auch unsere Reise ist inszeniert. Sie lässt Raum für Assoziationen. Im Park hinter dem Mülheimer Theater weiden geradezu symbolträchtig Schafe. War da nicht die Geschichte von der Höhle des fürchterlichen Polyphem, dem der listenreiche Odysseus und seine Gefährten entkamen, indem sie sich an den Bäuchen von Schafen festklammerten? Und gab es nicht auch in der "Odyssee" so opulente Gastmähler, wie wir sie auf dieser Reise erleben? Gelegentlich werden wir von unseren Begleitern auch als "Liebe Griechen, liebe Trojaner" begrüßt. In Dortmund marschieren wir wie eine friedliche Kulturarmee durch die Stadt zum Theater, freundlicher polizeilicher Geleitschutz inklusive. Das gelungene Zusammenspiel von Bühnen und Autoren mit den Teams von RUHR.2010 wurde inspiriert durch "raumlabor berlin", eine internationale Gruppe für Architektur, Kunst und Aktion. Ihr Ziel: Aus der Stadtlandschaft Ruhr ein Theater machen, in dem es nur noch Akteure gibt. Und das sind jetzt wir!
Zimmer frei!
Anders als Odysseus und seine Gefährten müssen wir nicht an unwirtlichen Gestaden unter freiem Himmel schlafen. Übernachtet wird bei privaten Gastgebern in der Region. Das bürgerschaftliche Engagement für RUHR.2010 und für die "Odyssee Europa" ist geradezu überwältigend. Tausende haben sich gemeldet, stellen Reisenden ihre Gästezimmer zur Verfügung, stehen als Ratgeber, als unentbehrliche Helfer an Straßenkreuzungen, Theatereingängen oder der Gepäckausgabe. Meine Gastgeberin ist Gertrud Hölscher in Bochum. Die Zeit zwischen den Aufführungen ist knapp. Aber sie reicht für einen kurzen Spaziergang in den Schlosspark zur "Situation Kunst" mit zeitgenössischen Gemälden und Skulpturen und ein langes Gespräch über das Leben in der Region und ihre kulturellen Schätze.
Odyssee Ruhrgebiet
"Für mich ist die Begegnung mit meinen fremden Gästen ein richtiges Abenteuer", sagt Gertrud Hölscher und betont, wie toll es ist, als Gastgeberin auch Teil des ganzen Projekts zu sein. Sie findet noch einen anderen Anknüpfungspunkt an die Irrfahrten des Odysseus: Das Ruhrgebiet mit seinen vielen, ineinander übergehenden Städten, mit den zahllosen Autobahnen - da könne man sich schon mal irren. Und verirren. Odysseus muss man dabei gar nicht heißen.
Autorin: Cornelia Rabitz
Redaktion: Conny Paul