Nürnbergs schweres Erbe
8. Mai 2014"Ich bin kein Bauexperte, aber wenn Sie mich fragen, kann das hier nicht mehr lange bestehen", sagt mir Historiker Alexander Schmidt vom Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände und kratzt mit dem Fingernagel an der bröckelnden Oberfläche der weißen Steintreppe. "Die Stadt Nürnberg ist bereit in die Anlage zu investieren, aber wir brauchen jetzt Hilfe, sonst wird alles völlig verkommen."
Ich bin nach Nürnberg gekommen, um etwas zu besichtigen, was nie hätte sein dürfen und jetzt dringend gerettet werden muss: die Haupttribüne am Zeppelinfeld, auf der Adolf Hitler bei den Reichsparteitagen der NSDAP zwischen 1933 und 1938 stand und zu den Massen sprach.
Gedacht für die Ewigkeit
Die Anlage ist der wichtigste erhaltene Bau des Nazi-Architekten Albert Speer. Sie ist auch eine ziemliche Ruine. Überall bröckelt es, Gras und Moos wachsen in immer größer werdenden Ritzen. Bauzäune mussten hier und da aufgestellt werden, zum Schutz der Besucher. Das Hauptgebäude des Reichparteitagsgeländes war zwar für die Ewigkeit gedacht, erwies sich aber von Anfang an als äußerst vergänglich.
Speer, der die Antike verehrte und kopierte, verwendete Muschelkalkstein - ein in Griechenland durchaus taugliches, aber keineswegs der Feuchtigkeit und Kälte Süddeutschlands gewachsenes Material. So entstanden die ersten Risse in der Bausubstanz schon 1938, als Hitler sich zum letzten Mal auf dem Gelände von seinen Anhängern feiern ließ.
Um die 70 Millionen Euro würde die Renovierung heute kosten. Keine so große Summe, vor allem wenn sich das Land Bayern und der Bund daran beteiligen, wovon das Dokumentationszentrum derzeit ausgeht. Aber darf man überhaupt Geld für die Instandsetzung eines Baus ausgeben, dessen Hauptzweck die Glorifizierung Hitlers war?
Monumentaler Größenwahn
Mehr als 200.000 Menschen besuchen jedes Jahr das gigantomanische Areal, die Hälfte von ihnen kommt aus dem Ausland. Ironischerweise ist das Reichsparteitagsgelände zu einer Hauptattraktion der Stadt Nürnberg geworden. Besonders beliebt ist die Tribüne. Von dort aus blickt man auf eine Fläche von mehr als zwölf Fußballfeldern. In das sogenannte Zeppelinfeld passten bei Aufmärschen bis zu 200.000 Menschen. Die Wallanlage gegenüber hat eine Kantenlänge von 270 mal 380 Meter. Was solche Zahlen jedoch wirklich bedeuten, vollzieht man erst nach, wenn man selbst an der Stelle steht, wo Hitler einst auf seine Gefolgschaft hinunterblickte.
Es ist eine eigentümliche Perspektive, unheimlich und absurd zugleich. Ich habe Leni Riefenstahls Filmaufnahmen von den Reichsparteitagen im Kopf. Sie zeigen, wie jedes Detail dieses monströs-imponierenden Spektakels propagandistisch ausgeschlachtet wurde. Es fällt mir nicht schwer, mir die Kraft eines solchen Massenereignisses vorzustellen. Hitlers brüllende Stimme habe ich förmlich im Ohr.
Auf der anderen Seite der Tribüne hängen noch Fangnetze, die einst amerikanische Besatzungssoldaten aufhängten, als sie Baseball auf dem Gelände spielten - von 1945 bis Mitte der 1990er hieß die Anlage unter den GIs "Soldiers Field". Noch heute werden Spiele der American-Football-Mannschaft Nürnbergs hier ausgetragen. Der Traum des Führers vom Tausendjährigen Reich - degradiert zum Spielfeld für amerikanischen Ballsport.
Prunk ohne Verwendung
Der Historiker Schmidt führt mich ins Innere des Gebäudes unterhalb der Stelle, an der Hitler seine Reden gehalten hat. Hier ist ein prunkvolles Foyer, genannt "Ehrenhalle" oder "goldener Saal". Der Raum ist geschätzte sechs Meter hoch, an der Decke glänzt ein äußerst aufwendiges Goldmosaik. Von hier aus hätte Hitler aufsteigen und auf seinem Platz vor der Menge plötzlich erscheinen können, wie heute Superstars bei Konzerten. Tatsächlich aber kam Hitler immer mit dem Auto und ging durch die Reihen seiner Anhänger auf die Tribüne, um sich als Mann des Volkes zu inszenieren.
Den "goldenen Saal" hat Hitler nie betreten. Und es war wohl nicht das einzige Mal, dass Speer etwas vollkommen Nutzloses für ihn bauen ließ. Nach dem Krieg soll Speer über Hitler gesagt haben, er sei der beste Bauherr der Welt gewesen. Denn Geld habe bei den Bauaufträgen nie eine Rolle gespielt. "Sie waren ein bisschen wie zwei Kinder, die sich gegenseitig hochpuschten und am Ende gar keine Grenzen mehr kannten", sagt Alexander Schmidt.
Nachdem wir die Ehrenhalle besichtigt haben, führt mich Schmidt in das Dokumentationszentrum. 2001 hat im nie fertigestellten NS-Kongresszentrum ein Museum eröffnet. So gut die Ausstellung auch ist, mich beeindruckt viel mehr die groteske Größe der Halle selbst. Zwar wurden die Bauarbeiten 1939 mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eingestellt, aber auch 39 Meter Höhe statt der geplanten 80 Meter sind einschüchternd. 50.000 Menschen sollten in der Halle Platz finden. Von einer Aussichtsplattform oben am Museum schaue ich hinunter auf den überdimensionierten Rohbau. Selten habe ich den Größenwahn Hitlers so sehr am eigenen Leib gespürt wie hier.
Das Ende war auch ein Anfang
Ein paar Stunden später bin ich am anderen Ende der Stadt, an einem ganz anderen Ort. Ich stehe in dem Gerichtsgebäude, in dem die Alliierten Speer und andere Hauptkriegsverbrecher auf die Anklagebank setzten. Manche Deutsche empfanden die Nürnberger Prozesse zwischen 1945 und 1949 als ein Beispiel von Siegerjustiz, für deutlich mehr Menschen rund um die Welt jedoch symbolisierten sie den endgültigen Untergang von Hitlers wahnsinnigem Reich und den Versuch, die lebenden Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
"Unsere Ausstellung ist gewissermaßen das Gegenteil vom Dokumentationszentrum", sagt Kuratorin Henrike Zentgraf. "Bei uns gibt es wenig Objekte, dafür aber jede Menge Filmaufnahmen und Textmaterial." Ein juristischer Prozess bestehe eben vor allem aus Worten.
Die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts
Zentgraf hat Recht. Das Hauptausstellungsstück - wenn man es so nennen will - ist die Bank, auf der Hermann Göring saß, während er verhört und verurteilt wurde. Ansonsten ist das Museum voller Transparente und interaktiver Videos, die unterschiedliche Aspekte der Nürnberger Prozesse beleuchten. Das ist alles andere als haptisch, aber aufschlussreich. So erfahre ich beispielsweise, dass simultanes Dolmetschen mehr oder weniger bei den Prozessen erfunden wurde und Videomaterial erstmals als Beweismittel verwendet werden konnte.
Im letzten Ausstellungsraum lese ich, dass die Nürnberger Prozesse sogar die Geburtstunde des Völkerstrafrechts markierten. Die Ad-hoc Tribunale für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien, die den Genozid und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in diesen Ländern aufzuarbeiten versuchen, bauten später darauf auf.
Eines ist am Ende deutlich: Nürnberg geht sehr offen mit der NS-Vergangenheit um. Nun lässt sich die Tatsache, dass die Stadt eine besondere Rolle im Dritten Reich spielte, kaum ignorieren. Durch die NSDAP-Parteitage und die Rassengesetze bleibt sie auf ewig verbunden mit einem der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. Doch genauso gehört der Aufbruch in eine etwas humanere Welt zu Nürnbergs Erbe. Es ist der offene Umgang mit diesen Gegensätzen, der einen Besuch der Stadt heute reizvoll macht.