Nürnberger Prozesse: Konfrontation mit NS-Verbrechen
20. November 2020"Schuld ist immer etwas Persönliches", sagt der 81-jährige Niklas Frank. Es ist ein Gedanke, der das Problem Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg verdeutlicht: Wie kann das Trauma einer Nation in die einzelnen Köpfe der Bevölkerung gelangen? Wie schafft man es, die Schuld der Eltern zu seiner persönlichen Verantwortung zu machen?
Für viele Deutsche waren das damals abstrakte Fragen, die mit Schweigen bedacht und unterdrückt wurden. Für Niklas Frank aber brach das Thema unmittelbar ins eigene Leben ein. Denn sein Vater war Hans Frank, Generalgouverneur im besetzten Polen während des Zweiten Weltkriegs - und damit unmittelbar verantwortlich für vier Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Niklas Frank war bei Kriegsende sechs Jahre alt und erinnert sich noch heute daran, wie seine Familie sich weigerte, die Schuld des Vaters anzuerkennen, als er in Nürnberg vor Gericht saß. Vor 75 Jahren, am 20. November 1945, begannen die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Hans Frank wurde im darauffolgenden Oktober gehängt.
Das Tribunal galt als "Siegerjustiz"
1945 waren die meisten Deutschen noch nicht bereit, zu ihrer Schuld zu stehen. Sie waren im zu Ende gehenden Krieg auf Überleben getrimmt. Wirtschaft und Infrastruktur des Landes lagen am Boden. Millionen Vertriebene mussten untergebracht werden. Der Bevölkerung standen vier Jahre ohne eigene Regierung bevor, im Niemandsland der militärischen Besatzung.
Mitten in dieser Zeit begann der erste und wichtigste der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse - und auch der einzige, der von allen vier Alliierten gemeinsam organisiert wurde. Er dauerte elf Monate, 240 Zeugen wurden gehört, rund 300.000 Erklärungen verlesen. Die Urteile standen keineswegs vorher fest. Das Gericht verhängte gegen die angeklagten hochrangigen Nazi-Größen zwölf Todesurteile, sieben Haftstrafen und drei Freisprüche.
Trotz dieser differenzierten Urteile sahen die meisten Deutschen in dem Alliierten-Gericht damals eine Form der "Siegerjustiz". "Das war die herrschende Meinung in Deutschland. Totale Ablehnung dieser Prozesse. Die Menschen glaubten, dass sie einseitig waren", sagt Ingo Müller, Jurist und Autor des Buches "Furchtbare Juristen", das sich mit dem Erbe der Nazis in der deutschen Justiz befasst. "In den Köpfen hatten die Nazis noch Einfluss. Daran haben die Nürnberger Prozesse nichts geändert", sagt Müller.
Die USA leisteten der "Siegerjustiz"-Sicht zusätzlichen Vorschub. William Douglas, damals Richter am Obersten Gerichtshof der USA, argumentierte, die Alliierten hätten sich nachträglich Gesetze zurechtgelegt, die zu den Nazi-Verbrechen passten, und damit gegen einen wichtigen Rechtsgrundsatz verstoßen. Hinzu kam der Umstand, dass ausgerechnet Iona Nikittschenko Hauptrichter der Sowjetunion in Nürnberg wurde. Nikittschenko hatte in den 1930er Jahren einige Urteile in Joseph Stalins berüchtigten Schauprozessen gesprochen.
"Mit der Naziriecherei mal Schluss machen"
Das alles untergrub über Jahrzehnte das Vertrauen der deutschen Öffentlichkeit in die Rechtmäßigkeit der Nürnberger Prozesse. Buchautor Müller erinnert daran, dass deutsche Völkerrechtler noch jahrelang die These vertraten, die Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen, das mit dem Holocaust vergleichbar und ähnlich zu bestrafen gewesen wäre - eine Meinung, die heutzutage nur noch am äußersten rechten Rand zu finden ist.
Das unausgesprochene Motto Konrad Adenauers, des ersten Bundeskanzlers der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland, war: vergeben und vergessen. Adenauer war zwar selbst nie Nazi gewesen, das hielt ihn aber nicht davon ab, ehemalige Parteigrößen auch in höheren Positionen der frühen Bundesrepublik zu akzeptieren. Besonders deutlich wurde das bei der Wahl von Hans Globke, des Bundeskanzleramtchefs von 1953 bis 1963. Dieser war ein hoher Beamter in Hitlers Innenministerium und 1935 Mitverfasser der berüchtigten Nürnberger Rassegesetze gewesen, die den Antisemitismus und Rassismus der Nationalsozialisten juristisch institutionalisierte.
Teilweise war die Wahl Globkes aus der Not heraus geboren, da das noch junge Land erfahrene Beamte benötigte. "Aber bei Globke", sagt Ingo Müller, "war es auch die Wahl einer Symbolfigur. Adenauer sagte damit: Guckt euch an, ihr alten Nazis, wenn ihr hier mitmacht bei der Demokratie - und nicht weitermacht mit 'Sieg Heil' und Antisemitismus - dann passiert euch auch nichts." Und tatsächlich passierte wenig: Kein einziger Richter der Nazi-Ära beispielsweise wurde jemals von einem Gericht der Bundesrepublik für die Zehntausenden ungerechtfertigten Todesurteile während der NS-Herrschaft zur Verantwortung gezogen. Einige wenige wurden lediglich während der dritten Nürnberger Prozesse, die im Jahr 1947 endeten, verurteilt.
Adenauer war sich der Stimmung im Land sehr bewusst: Im Jahr 1951 protestierten Tausende am Kriegsverbrecher-Gefängnis in Landsberg am Lech in Bayern gegen die Hinrichtung von 28 Kriegsverbrechern, die in Nürnberg verurteilt worden waren. Und bei einer Bundestagsdebatte im Oktober 1952 zum Thema ehemalige Nazis in offiziellen Positionen wurde Adenauer mit Applaus belohnt für die Aussage: "Ich meine, wir sollten jetzt mit der Naziriecherei mal Schluss machen. Denn verlassen Sie sich darauf: Wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört."
Nazis in der DDR
Die Situation im Osten Deutschlands ähnelte der im Westen, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Die Sowjetunion schickte anfangs Zehntausende ehemalige Nationalsozialisten ins Gefängnis oder in den Tod, während die sozialistische DDR den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erklärte. Zu diesem Zweck führte das Ministerium für Staatsicherheit, die Stasi, ein umfangreiches Archivregister mit Nazi-Unterlagen deutscher Staatsbürger.
Sehr wenige Ostdeutsche mussten sich allerdings vor Gericht verantworten – das Register diente vor allem dem Zweck, Nazigrößen in Westdeutschland zu entblößen und damit Adenauers neue Regierung in Verlegenheit zu bringen. Die DDR wurde nicht müde, die Bundesrepublik als unmittelbaren, kapitalistisch-imperialistischen Nachfolgestaat des sogenannten Dritten Reiches darzustellen.
Die Alliierten des Zweiten Weltkrieges - die USA, Großbritannien und Frankreich auf der einen, die Sowjetunion auf der anderen Seite - hatten zu Beginn der 1950er Jahre im jeweils anderen einen neuen Feind gefunden. Das gab den USA den Anstoß, ihre "Illusionen", wie es Ingo Müller nennt, aufzugeben, was die Umerziehung der Deutschen anbelangte. "Ich glaube, dass die Alliierten irgendwann Anfang der 50er ihren Frieden gemacht haben mit Deutschland und gesagt haben: Okay, das Hakenkreuz wird nicht mehr gezeigt, und 'Sieg Heil' wird nicht mehr gerufen - die Deutschen sind jetzt ein normales Volk", sagt er der DW. "Man war froh, dass das Nazizeug so langsam rauswächst, aber das dauerte Jahrzehnte."
Langsamer Fortschritt
Es gibt in der deutschen Gesetzgebung das Kuriosum, dass das Leugnen des Holocaust zwar unter Strafe steht, daran aber aktiv mitgewirkt zu haben nie formal als Verbrechen anerkannt worden ist. Einzelpersonen können zwar wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord verurteilt werden, aber nur, wenn ihnen eindeutig nachgewiesen wurde, dass sie an individuellen Tötungen beteiligt gewesen sind. Der Holocaust aber stellt eine vollkommen andere Art des Verbrechens dar: Wie ist damit umzugehen, wenn das gesamte System mörderisch war? Wie werden einzelne Rädchen in der Maschinerie bestraft, die womöglich ihre Opfer nie gesehen haben? Wie werden Lokführer, Wachleute oder Schreibtischtäter des Massenmords strafrechtlich verfolgt?
Es dauerte fast ein Jahrzehnt, nachdem die letzten Nürnberger Prozesse 1949 beendet worden waren, bis Deutschland anfing, auch vor eigenen Gerichten seine Verbrechen aufzuklären. Der erste deutsche Prozess gegen NS-Täter begann 1958 in Ulm gegen zehn Mitglieder eines Einsatzkommandos. Sie wurden wegen des Massakers an 5.502 Juden an der litauischen Grenze im Jahr 1941 angeklagt. Aber da kein Zeuge vor Gericht einen der Angeklagten eindeutig als Täter identifizieren konnte, wurden die Angeklagten nur wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord verurteilt.
Der Ulmer Fall war dennoch ein Meilenstein. Er gab den Anstoß für die Einrichtung der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg, die mit der Erfassung von Nachweisen begann. Das trug dazu bei, dass sich 22 Angeklagte im berühmten Auschwitz-Prozess in Frankfurt im Jahr 1963, bei dem zahlreiche Überlebende gegen ihre Folterer aussagten, verantworten mussten.
Dennoch musste erst das 21. Jahrhundert anbrechen, bis das deutsche Justizsystem auch Menschen verurteilte, die sich wissentlich am Holocaust beteiligt haben. Das war erst möglich, nachdem 2011 in München der ehemalige ukrainische Kollaborateur John Demjanjuk verurteilt wurde, der Wachmann im Konzentrationslager Sobibor gewesen war. Das Urteil wurde jedoch nicht rechtskräftig, weil Demjanjuk starb, bevor über eine Revision entschieden war. Dieser Präzedenzfall zeigte, dass jeder, der in einem Konzentrationslager in egal welcher Funktion gearbeitet hatte, wegen Beihilfe zum Mord verurteilt werden konnte, und zog weitere Ermittlungen in Ludwigsburg nach sich. In dessen Folge wurden einige inzwischen hochbetagte Männer angeklagt. Dazu gehörten Oskar Gröning im Jahr 2015 und erst kürzlich, im Juli 2020, Bruno D. Dessen Gerichtsprozess wurde in Hamburg vor der Jugendstrafkammer verhandelt, weil er seine Zeit als Wachmann im Konzentrationslager Stutthof als 17-Jähriger angetreten hatte.
Für Ingo Müller, der die Nürnberger Prozesse als große historische Errungenschaft betrachtet, ist es das belastendste Vermächtnis der Bundesrepublik, dass die Legitimität der damals ausgesprochenen Urteile nie anerkannt wurde. Das deutsche Recht, so Müller, besagt, dass verurteilte Beamte ihre Posten und Pensionen verlieren. Das sei aber nie mit jenen passiert, die in Nürnberg verurteilt wurden. Manche erhielten Tausende D-Mark Rente und erstattete Gehälter nach ihrer Freilassung aus den Gefängnissen der Alliierten.
Die Erinnerung wachhalten
Der Historiker Efraim Zuroff, Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, findet, Deutschland habe zwar lange gebraucht, um mit seiner Schuld umzugehen, aber seither einen langen Weg zurückgelegt, sagte er in einem DW-Interview im Jahr 2015. Der in den USA geborene Israeli koordiniert die Forschung des Wiesenthal-Zentrums zu NS-Kriegsverbrechen.
"Wir sind Lichtjahre entfernt von den Zeiten der 60er und 70er Jahre, was das Wissen um den Holocaust, den Umgang damit und Verständnis dafür, was für eine furchtbare Gräueltat das war, anbelangt. Hätten die Deutschen vor 40 Jahren dieselben Kriterien angelegt, wie sie es heute tun, hätte es 40 oder 60 Mal so viele Fälle gegeben."
Auch im Vergleich zu anderen Ländern, die mit der NS-Führung zusammenarbeiteten, habe Deutschland viel an Aufarbeitung geleistet, meint Zuroff: "Der Wandel in Deutschland kam spät, aber er kam. In Deutschland werden Täter zur Rechenschaft gezogen. Vergleicht man das mit Österreich - da ist nichts Entscheidendes passiert in den vergangenen 30 oder 40 Jahren. In Deutschland gibt es einen politischen Willen, NS-Täter zu verurteilen."
Auch außerhalb der Justiz wird Deutschland weiterhin die Erinnerung an die Gräueltaten von damals wachhalten - vor allem in Zeiten, in denen Antisemitismus und Rechtsextremismus in Europa erneut erstarken.